Kühle Morgenluft weht durch San Juan Comalapa, ein Ort auf 2150 Metern Höhe im guatemaltekischen Hochland[1]. In der indigenen Gemeinschaft der Kaqchikel ist heute kein Tag der Trauer, sondern ein feierliches Wiedersehen mit den Verstorbenen. Am 1. und 2. November – »Día de Todos los Santos« (Allerheiligen) und »Día de los Fieles Difuntos[2]« (Allerseelen) – öffnet sich die Grenze zwischen den Welten. Die Seelen der Toten kehren zurück und werden geehrt.
Die Familie Curruchich macht sich auf zum Friedhof, der nur einen kurzen Fußmarsch von ihrem Haus entfernt liegt. Heute sind lediglich Mutter Ivette und ihre 18-jährige Tochter Dulce dabei. Die Söhne müssen arbeiten. Seit Ivette ihren Mann verlor – er starb mit 29 – trägt sie die Verantwortung für die Weitergabe und Bewahrung der Familientradition.
Auf dem Friedhof verschwimmen die Kulturen miteinander. Die meisten Bewohner*innen von San Juan Comalapa sind indigener Herkunft, zugleich aber katholisch – ein Erbe der spanischen Kolonialzeit. Stolz auf ihre Identität als Kaqchikel und doch dem katholischen Glauben verbunden, versucht die Familie Curruchich, beiden Welten gerecht zu werden. Zu Hause sprechen Ivette und Dulce Kaqchikel und Spanisch, sie besuchen die Kirche und pflegen zugleich die indigenen Bräuche.
Der Friedhof gleicht einem Meer aus Farben. Über viele Gräber ergießen sich leuchtend orange- und gelbfarbene Blüten und Blätter. Das Grab der Großeltern ist hellgrün gestrichen, ein kleiner, viereckiger Betonbau – fast wie ein Mausoleum. Direkt daneben, schlicht auf dem Boden, ruht das Grab des Vaters. Dulce bleibt kurz stehen, dann kniet sie nieder, um Kränze aus den orangefarbenen Blumen abzulegen, die sie am Vorabend auf dem Markt gekauft und sorgsam geflochten hat.
Während Dulce in stiller Trauer dem Verlust ihres Vaters nachspürt, beginnt Ivette mit dem Ritual: der Weihrauchzeremonie. Als Opfergabe bringt sie selbstgemachten Schnaps mit – den sogenannten Cusha. Während sie das Getränk in einen Becher gießt und in den Himmel hebt, huscht ihr ein Lächeln über das Gesicht. Auch das gehört zum Ritual: Am Grab wird nicht nur geweint und getrauert, sondern gemeinsam mit den Verstorbenen Zeit verbracht.
Für Ivette ist dieser Tag etwas zutiefst Persönliches, weit mehr als ein bloßes Gedenken. »Für mich bedeutet es, die Erinnerung an die Menschen zu ehren, die ich geliebt habe, die an meiner Seite waren, die ein wesentlicher Teil meines Lebens sind – und die meinen Weg bis hierher geführt haben.«
Die mitgebrachten Gaben sind für sie weit mehr als bloße Dekoration; sie sind Ausdruck von Verbindung und Kommunikation: »Wir ehren sie, indem wir ihnen Blumen, Kerzen und Weihrauch bringen und eine Weile mit ihnen teilen. Denn wir wissen, dass ihre physische Existenz nicht mehr da ist. Ihre Energie jedoch bleibt im Kosmos – und wir wissen, dass sie uns immer begleiten.«
Nach der Trauer und der Zeremonie folgt gewöhnlich ein weiterer Brauch: das Drachensteigenlassen. Die riesigen, oft über Wochen hinweg selbst gebauten Drachen sind weit mehr als Kinderspiel – sie besitzen eine mystische Bedeutung. Es heißt, dass man, »wenn man einen Drachen steigen lässt, eine Botschaft an die Wesen sendet, die gestorben und nun im Himmel sind«.
In diesem Jahr haben die Curruchichs jedoch keine Drachen dabei. Deren Bau gilt als Männersache, und den Söhnen fehlte wegen der vielen Arbeit die Zeit, die aufwendigen Konstruktionen vorzubereiten. Stattdessen genießen Ivette und Dulce den Anblick der imposanten Drachen anderer Familien, die über den umliegenden Gräbern in die Höhe steigen – meistens von Kindern gehalten, die auf den aus Beton gefertigten Grabmälern stehen.
Anstelle eines Drachens haben die Frauen eine Mahlzeit mitgebracht: selbstgemachte Chuchitos, die sie in Anwesenheit der Ahnen verzehren. Das gemeinsame Essen ist Ausdruck der kulinarischen Identität der Kaqchikel – und zugleich eine bewusste Abgrenzung vom kolonialen Erbe.
Ivette erklärt den Unterschied zwischen den Bräuchen der indigenen Völker und jenen der »Ladinos«, wie sie die nicht-indigene Bevölkerung nennt: Während die Ladinos daran gewöhnt seien, Fiambre zu essen – eine Mischung aus eingelegtem Gemüse, Wurstwaren und Käse, die mit der spanischen Kolonisation ins Land kam –, lehnen Ivette und Dulce dieses Gericht ab. »Was wir hier essen, sind Elotes, also junger Mais, und gekochte Güisquiles, auch Chayotes genannt, sowie Kürbisse«, erläutert sie. »Die Zutaten werden gedämpft und am Grab gegessen.«
Um traditionelle Chuchitos zuzubereiten, braucht es Zeit und Geschick. Schon am Vortag werden makellose Maisblätter gesammelt, der Mais gekocht, gemahlen und die Masse über dem Feuer mit einer Tomatensauce aus heimischen Kräutern und Schweinefleisch gefüllt, sorgfältig gewickelt und schließlich gekocht. Ivette, die dieses Handwerk von ihrer Mutter gelernt und an Dulce weitergegeben hat, bereitete in den Nächten zuvor mehr als fünfzig Stück zu. Die übrigen verkauft sie – denn selbstgemachte Chuchitos aus guten Zutaten sind heute selten geworden, erzählt Ivette.
Obwohl Guatemala und das benachbarte Mexiko die kulturellen Wurzeln der Maya-Völker teilen, haben sich ihre Traditionen im Umgang mit dem Tod unterschiedlich entwickelt. Während Mexiko durch die weltweite Ikonisierung seiner Feierlichkeiten bekannt wurde[3], betont Ivette, dass die Bräuche in Guatemala eigene Formen bewahrt haben. Der Día de los Muertos sei auch in Mexiko ein bedeutendes Fest, ausgelassen wie eine Fiesta Patronal in Guatemala. Die Figur der Catrina – ein Skelett in eleganter Kleidung und mit großem Hut – wurde im frühen 20. Jahrhundert ursprünglich als Satire geschaffen, steht heute jedoch für den farbenfrohen und humorvollen Umgang Mexikos mit der Sterblichkeit.
In Guatemala wird zwar ebenfalls gefeiert, doch in bescheidenerer Form und nicht bis tief in die Nacht hinein. Auch in der Musik zeigt sich ein Wandel: Die neue Mode, Mariachis für Serenaden an die Gräber zu holen, stammt aus Mexiko. Kürzlich aber, so erzählt Ivette, habe sie eine Familie beobachtet, die zu den Wurzeln zurückkehrte: Sie brachten eine indigene Marimba mit und spielten am Grab ihrer verstorbenen Eltern. Das sei, sagt Ivette, »etwas sehr Eigenes der indigenen Völker«. Es habe sie gefreut, diesen Brauch am diesjährigen Allerseelentag wiederzusehen.
Auch die jüngst übernommene Gewohnheit, verstorbener Haustiere zu gedenken, ordnet Ivette als Einfluss aus Mexiko ein. Diese Praxis sei »typischer für Mexiko als für Guatemala«, werde jedoch in Comalapa inzwischen ebenfalls gepflegt.
Der größte Unterschied liegt jedoch in der Sichtweise der Kaqchikel auf den Tod. Auch wenn der Verlust des physischen Körpers schmerzhaft ist, lehrten die Großeltern eine ganzheitliche Perspektive: »Für unsere alten Großmütter und Großväter war es ein Fest – der Übergang ins Jenseits. Sie feierten ihn, denn der Tod bedeutete zwar das Ende des Körpers, aber zugleich den Übergang des Geistes ins Universum, dorthin, wo die Energie des Schöpfers wohnt. Es ist die Rückkehr des Geistes an seinen Ursprung.« Auch wenn diese ursprüngliche Sichtweise heute teilweise in den Hintergrund geraten ist, bleibt die Feierlichkeit lebendig.
Als Mutter und Tochter den Friedhof verlassen, verwandelt sich die Trauer in eine festliche Stimmung. Rund um den Friedhof erklingen Musik und Stimmen, es gibt Essen und heiße Getränke. Zum Aufwärmen trinken sie den berühmten Batido von San Juan Comalapa – ein warmes Getränk aus fermentierten Früchten wie Guayaba und Jocote, verfeinert mit Zimt und Ingwer.
Zuhause angekommen, tauscht die Familie Erinnerungen und Geschichten über die Verstorbenen aus. Dulce, die angehende Lehrerin, pflegt ihre eigene Art der Verbindung zu ihrem Vater: Sie schreibt Gedichte auf Spanisch und Kaqchikel – als Ausdruck ihrer Trauer und zugleich als fortdauerndes Gespräch mit ihm.
Ivette ist stolz auf die Frauen in ihrer Familie. Jede folgt ihrer eigenen Bestimmung: Sie selbst arbeitet als Weberin und Näherin und unterrichtet die Dorfjugend in der Kunst der traditionellen Kleidung; ihre Mutter war Malerin, und Dulce schreibt und lehrt Bräuche.
Doch Ivette spürt den Wandel der Zeit. Dulce trägt heute Jeans und Pullover statt Huipil (bunter Bluse) und Corte (selbstgewebtem Rock), die Ivette in monatelanger Arbeit anfertigt. Sie kritisiert das mit Nachdruck, denn sie kämpft für den Erhalt indigener Traditionen – notfalls auch auf Demonstrationen in der Hauptstadt, wenn die Regierung Gesetze erlässt, die der indigenen Denkweise widersprechen.
In der Küche erlischt langsam die Glut des Feuers, das am frühen Morgen für die Chuchitos entfacht wurde. Mit dem letzten Bissen der Speisen und dem Erzählen von Geschichten enden die Tage der Heiligen – 48 Stunden, in denen die Ahnen geehrt werden und der Tod für einen Augenblick nicht als Abwesenheit, sondern als Nähe der geliebten Menschen empfunden wird.