Zehn Jahre nach Beginn ihrer ersten Missionen[1] auf dem Mittelmeer entscheidet sich eine Allianz von Seenotretter*innen für einen drastischen Schritt: Als »Justice Fleet«[2] beenden 13 Organisationen ihre operative Kommunikation mit der Leitstelle der libyschen Küstenwache. Denn diese Stelle koordiniert brutale Einsätze von einem Netzwerk bewaffneter Milizen, das von der Europäischen Union ausgebildet und technisch ausgerüstet wird. Die von den Einheiten auf dem Mittelmeer abgefangenen Geflüchteten werden häufig in Folterlager gebracht.
Der Schritt erfolgt auch vor dem Hintergrund einer zunehmend repressiven Politik gegenüber der zivilen Seenotrettung in Italien: Dort werden Schiffe auf Grundlage des sogenannten Piantedosi-Dekrets[3] seit 2023 regelmäßig festgesetzt und Geldstrafen gegen die Organisationen verhängt – aus fadenscheinigen Gründen, etwa weil sie in derselben Mission mehr als eine Rettung durchgeführt haben oder keine Befehle der libyschen Leitstelle ausführen und Geflüchtete den Milizen überlassen wollten.
Die Beendigung der Kommunikation mit Libyen könnte für die beteiligten Organisationen deshalb weitere Konsequenzen haben. Denn auch die Nichtbenachrichtigung der dortigen Leitstelle führte in Italien schon zu Dutzenden Festsetzungen von Schiffen mit insgesamt 712 Tagen. Jüngst verhängten italienische Behörden sogar eine Sperre gegen ein Suchflugzeug[4] von Sea-Watch.
Nachträglich haben die NGOs bislang 13 Eil- und sieben Hauptsacheverfahren gegen die Festsetzungen vor italienischen Gerichten gewonnen. Zuletzt wurde diese Woche[5] ein Beschluss zugunsten von SOS Humanity rechtskräftig: Ein Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Gerichts in Crotone vom Juni 2024, wonach Libyens Küstenwache nicht als legitime Such- und Rettungsorganisation im Mittelmeer gelten kann. In diesem Sinne hatte im Mai dieses Jahres auch Italiens Verfassungsgericht geurteilt – eine grundsätzliche Beschwerde gegen das Piantedosi-Dekret aber zurückgewiesen.
Die »Justice Fleet« will mit einem völkerrechtswidrigen Zusammenspiel brechen, das die EU über Jahre errichtet hat. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 im sogenannten Hirsi-Urteil Italien verurteilte, weil das Land Geflüchtete nach Libyen zurückgebracht hatte, suchte die EU nach Wegen, die Menschen trotzdem wieder nach Nordafrika pushbacken zu können.
Um gerettete Geflüchtete gemäß dem Hirsi-Urteil nicht nach Europa bringen zu müssen, wandelte die EU die verbotenen Pushbacks in ein Systems von Pullbacks um: 2018 meldete Libyen dazu mit Unterstützung aus Italien und Finanzierung aus Brüssel eine eigene Rettungszone bei der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) an – und verpflichtete sich damit, eine Leitstelle einzurichten. Gleichzeitig begann die EU-Grenzagentur Frontex mit dem Aufbau einer eigenen Luftüberwachung[6], um Boote im zentralen Mittelmeer aufzuspüren und an die neue Leitstelle in Tripolis zu melden.
Eine stetig wachsende Flotte der libyschen Küstenwache holt die Menschen seither aus dieser Zone nach Nordafrika zurück. Diese Milizen sind für ihre Brutalität bekannt. Allein in den vergangenen zwei Monaten dokumentierten Seenotrettungsorganisationen mehrere gewaltsame Übergriffe auf Schutzsuchende und auch Rettungsteams. Darunter war ein Angriff auf das Schiff »Ocean Viking«, das 20 Minuten lang beschossen wurde[7].
Dennoch empfing die EU kürzlich Vertreter sowohl der international anerkannten Regierung in Tripolis als auch der ostlibyschen, von Russland unterstützten Gegenregierung zu Gesprächen mit Frontex in Warschau. Anschließend folgte ein Besuch bei der Kommission in Brüssel – am gleichen Tag eröffnete eine libysche Miliz das Feuer auf Menschen in einem Boot auf dem Mittelmeer[8] und traf dabei einen Mann in den Kopf, er wurde schwer verletzt. Nach Berichten von Überlebenden soll es auch einen Toten gegeben haben[9].
»Leben zu retten ist kein Verbrechen. Verschleppungen in Folterhaft zu finanzieren und zu koordinieren, ist eines.«
Allison West ECCHR
Unklar ist, ob die seit acht Jahren aus der EU geförderte libysche Rettungsleitstelle überhaupt den Vorgaben der IMO und internationalem Seerecht[10] entspricht – etwa eine Erreichbarkeit rund um die Uhr, englisch sprechendes Personal und die Bereitstellung von medizinischem Notfallmanagement. Auch nach einer zweiten Finanzierungsrunde gibt es – soweit bekannt – bis heute lediglich eine provisorische containerbasierte Leitstelle, die aber auch noch nicht aufgestellt[11] worden ist.
Die Initiative der »Justice Fleet« ist mutig. Die 13 Organisationen – darunter mit CompassCollective, Louise Michel, ResQship, Sea-Eye, Sea Punks, Mission Lifeline, Sea-Watch und SOS Humanity die meisten aus Deutschland – fordern auch die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, die Unterstützung der libyschen Küstenwache zu beenden und die Kriminalisierung ziviler Seenotrettung zu stoppen.
Bei der Regierung in Rom finden diese Forderungen jedoch kein Gehör: Ein 2017 geschlossenes Abkommen zur Migrationskontrolle mit Libyen wurde kürzlich trotz Protesten von Menschenrechtsorganisationen um weitere drei Jahre verlängert. Italien übernimmt darin die Aufgabe, die EU-Gelder zugunsten der libyschen Küstenwache zu verteilen – seit 2017 erhielten die Milizen laut der »Justice Fleet« mindestens 84 Millionen Euro.
Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) spricht deshalb von einem »gemeinsamen Tatplan« von EU-Institutionen, Frontex, der militärischen Mittelmeermission Irini sowie EU-Mitgliedstaaten – insbesondere Italien und Malta. »Leben zu retten ist kein Verbrechen. Verschleppungen in Folterhaft zu finanzieren und zu koordinieren, ist eines«, erklärt dazu Allison West vom ECCHR. Dies wie die »Justice Fleet« zu verweigern, sei deshalb die einzig rechtmäßige Antwort.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195237.pullbacks-nach-libyen-zivile-flotte-zieht-grenze.html