Folgt man dem Konvolut von Bildern, wie sie im Berliner Gropius-Bau versammelt sind, bestand das einzige Interesse von Diane Arbus an der Fotografie darin, Menschen zu porträtieren. Ihr Gesamtwerk, das von den 40er Jahren bis zu ihrem Tod 1971 reicht, erscheint dem heutigen Betrachter wie eine einzige lebenslange Suche nach der Essenz des Menschseins. Arbus scheint neben ihren Aufträgen kaum etwas anderes fotografiert zu haben. Die »Konstellationen« genannte Retrospektive der US-amerikanischen Fotografin ist die bislang umfangreichste Schau ihrer Werke. Unter den 454 Fotografien lassen sich gerade mal drei Bilder finden, die keine Porträts im engeren Sinne sind, und selbst bei diesen geht es eigentlich um die Menschen, die auf dem Foto nur gerade nicht zu sehen sind.
Arbus’ Porträts umfassten ein Panoptikum menschlicher Typologien, sie schien magisch angezogen von bizarren Typen und Menschen am Rande der Gesellschaft: Sonderlinge, sexuelle Abweichler, Extreme, fragwürdige Geschmäcker, Posen und Situationen – die gesamte Vielschichtigkeit menschlicher Praxis. Wo die meisten wegschauen würden, nahm sie die Kamera in die Hand. Man ist an Sibylle Bergemann[1] erinnert, die ähnlich wie Arbus, wenn auch eine Generation später, das wahre Leben in der Tiefe des Raums verortete: »Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte. Das Nichtaustauschbare ist für mich von Belang«, wie sie es einmal ausdrückte. Auch für Arbus wurde es interessant, wenn etwas nicht ganz stimmte in den Gesichtern und Seelenlandschaften. Ein Porträt glich für sie einem Geheimnis, hinter dem sich ein anderes verbarg: »The more it tells you, the less you know« (Je mehr es preisgibt, desto weniger weiß man).
Wenn es um den Freitod von Diane Arbus 1971 mit nur 48 Jahren geht, wird meist kolportiert, sie hätte sich wegen ihrer Depressionen sowie existenzieller Ängste angesichts ausbleibender Aufträge und Stipendien das Leben genommen. Letzteres verwundert, stammte Arbus doch aus einer wohlhabenden Familie und wuchs sorglos und bestens ausgebildet in New York auf. Entsprechend gut war sie vernetzt, wie man heute sagen würde, und bereits zu Lebzeiten sehr bekannt. Sie arbeitete für große Magazine wie »Vogue« oder »Glamour« und war in Sammlungen wie der des MoMa vertreten.
Freilich veränderten sich der amerikanische Magazinmarkt und die Fotografie generell gegen Ende der 60er Jahre. Die schwarz-weiße und pure Straßenfotografie [2]eines Garry Winogrand, Robert Frank oder eben einer Diane Arbus hatte ihre große Zeit mit der Etablierung der 35-mm-Kleinbildkamera als praktikable Alternative zu den großformatigen Profikameras. Langsam begann aber eine jüngere Generation sich von den traditionellen Sujets abzuwenden und experimentierte lieber mit der Farbfotografie. Gut möglich, dass Arbus’ unprätentiöse Art der Menschenfotografie nicht mehr so gefragt war.
Nun wäre es zu viel der Küchenpsychologie, aus der offenbar inneren Zerrissenheit des Menschen Diane Arbus auf ihre Sujets zu schließen oder umgekehrt. Dem Betrachter ihrer Porträts und fotografischen Essays öffnet sich jedenfalls eine faszinierende Welt voller außergewöhnlicher Typen. In ihrem ersten Foto-Essay, den sie 1960 in der Zeitschrift »Esquire« veröffentlichte, erkundete und fotografierte sie nach eigener Aussage »Bodybuilder, Schönheitswettbewerbe, Debütantinnen, Ausgestoßene, Pfadfindertreffen, Jugendbanden, ein abbruchreifes Hotel auf dem Broadway und dessen Bewohner, einen kleinwüchsigen Mann aus Russland, der Maurice Chevalier imitiert, ein Tierkrematorium sowie Darsteller einer Travestieschau«. Eigentlich würde sie aber, wie sie an ihren damaligen Mann schrieb, »gern alle Menschen fotografieren«.
Neben ihren Auftragsarbeiten, oft für Modemagazine, beschäftigte sich Arbus immer wieder mit Themen, in denen es um Menschen jenseits gesellschaftlicher Normen geht – die allerdings in den 50er und 60er Jahren in den USA auch noch recht eng gefasst waren. Sie fuhr in Gefängnisse und Psychiatrien, besuchte Einrichtungen für geistig Behinderte oder ein FKK-Familien-Ferienlager. Das Gefühl der Andersartigkeit, die Brüche in den Gesichtern, den Lebensläufen, waren für sie Lebenszeichen von den Rändern der Gesellschaft. Sie fotografierte die Menschen »direkt«, ohne doppelten Boden oder zweite Bedeutungsebene hinter der Oberfläche.
Meist stehen die Porträtierten zentral im Bild und blicken frontal in die Kamera. Ihre Bildsprache verrät die fundierte Ausbildung, ist aber frei davon, formale Wagnisse einzugehen. Die Schönheit des Bildes lag für Arbus nicht in der exaltierten Gestaltung, sondern im Motiv selbst. Formal tritt sie sozusagen hinter ihre Figuren zurück und überlässt ihnen den Raum.
Arbus’ bekanntestes Porträt ist wohl das der siebenjährigen eineiigen Zwillingsschwestern. Über viele Jahre hinweg fotografierte sie immer wieder Zwillinge und Drillinge, deren Ähnlichkeit und doch Andersartigkeit sie faszinierte. Für ihre Erforschung der Grenzen zwischen Normalität und Abweichung waren Zwillinge ein kraftvolles Symbol. Dasselbe galt für Kinder, die in ihrer eigenen Welt der Unschuld leben und gesellschaftliche Normen noch kaum verinnerlicht haben.
Allein die zahlreichen Porträts von Kindern und Jugendlichen, oft aus prekären Milieus, lohnen einen Besuch der Ausstellung. Einmal mehr ist zu bedauern, dass es heute so gut wie unmöglich geworden ist, unbefangen Menschen bzw. Kinder zu fotografieren, und dass das fotografische Bild weithin als Bedrohung wahrgenommen wird, sobald es den privaten Rahmen verlässt. Sicher ist das Persönlichkeitsrecht am eigenen Bild eine Errungenschaft, aber die Frage muss erlaubt sein, welches Bild wir unseren Enkeln von der heutigen Gesellschaft hinterlassen und wie wir uns später erinnern wollen.
In Arbus’ Bildern ist Geschichte verdichtet, und sie vermittelt uns ein lebendiges Bild des Lebensgefühls ihrer Zeit. Heute wären Bilder, wie sie sie gemacht hat, nur noch mit aufwendiger rechtlicher Absicherung – oder eben gar nicht mehr möglich.
Diane Arbus: Konstellationen, bis 18. Januar 2026 im Gropius-Bau, Berlin.