Wenn etwas zu Ende geht, denkt man häufig daran, wie es begann. Wo hört der Spaß auf und wo fängt die Verantwortung an? Wo hört die Verantwortung auf und wo fängt der Spaß an? Warum gibt es kaum eine Möglichkeit, das eine ohne das andere zu erleben? So wie Entspannung nur auf der Grundlage der Anspannung stattfinden kann, allein muskulär schon: Sympathikus und Parasympathikus brauchen einander. Um die Aussicht genießen zu können, muss man zuerst auf einen Berg steigen – nimmt man die Gondel, ist es niemals so schön dort oben, wie wenn man sich selbst, unter hoher Anstrengung, hinaufgetragen hat. Auch die Kühle eines Bergsees ist niemals so erfrischend, wenn man nicht die innere Hitze des Aufstieges in sich verspürt.
Man sagt, dass es gute und schlechte Probleme gibt – denn Probleme hat man ja immer. Eine tödliche Krankheit, zum Beispiel, ist ein schlechtes Problem, während ein Konflikt mit der Vorgesetzten ein gutes Problem sein kann. Die Frage ist, ob das Problem das Potenzial hat, einen wachsen zu lassen, sich entwickeln zu lassen. Eine Kolumne zu schreiben, ist in gewisser Weise immer ein Problem, denn sie liegt vor einem wie ein Berg, den man erklimmen muss: Das latente schlechte Gewissen, das Vor-Sich-Herschieben des Berges ist inbegriffen. Wie ein wöchentlich stärker werdender Juckreiz fühlt sich die Kolumne an, ein Juckreiz, den man nur schreibend lindern kann. Als würde sich etwas, das Leben selbst, auf einem auftürmen. Und die Linse, durch die man das Erlebte sieht, sich kontinuierlich schärfen. Fluch und Segen gleichermaßen, wenn alles Erlebte das Potenzial hat, eine gut oder weniger gut erzählte Geschichte zu werden.
Ich lege »Spaß und Verantwortung« ab wie eine Schlange ihre Haut. Eine Haut aus Schrift und Worten. Die Geschichten liegen auf mir, wie nachts manchmal die Gegenstände, die ich besitze. Ein Inventarisieren der eigenen Lebensgeschichte. Das Hirn ist der Speicher, der Dachboden des Körpers. Manches auf ihm verstaubt, manches wird vergessen. Vieles muss vergessen werden, um Platz für Neues schaffen zu können.
Mit geschlossenen Lidern und darunter geöffneten Augen liege ich jeden Abend im Bett. Statt einzuschlafen, fange ich an, mich Stück für Stück an jeden Gegenstand zu erinnern, den ich jemals besessen habe. Eine aussichtslose Aufgabe. Wenn ein Gegenstand vor meinem inneren Auge erscheint, den ich nicht verorten kann, stehe ich auf und fange an zu suchen. Habe ich den Gegenstand gefunden, lege ich mich beruhigt ins Bett. Manchmal nehme ich den Gegenstand mit, auch wenn es sich dabei zum Beispiel um ein Küchengerät handelt. Ich möchte ihn dann so nah wie möglich bei mir haben, um ihn niemals wieder zu verlieren. Wenn ich ihn nicht finde, lässt mich das unruhig zurück. Ich trage den Gegenstand in eine Liste ein: »Dinge, die ich verloren habe«. Für alles Verpasste, Versäumte, Verlorene, Verliehene, Verprasste, Bestellte, Noch-nicht-Bekommene habe ich Listen, die jeden Tag fortgesetzt werden.
In guten Nächten bleibt es dabei, in schlechten Nächten wiederholt sich der Vorgang, immer und immer wieder, bis ich, völlig erschöpft vom Inventarisieren, einschlafe – ohne zu bemerken, dass ich gerade eingeschlafen bin. Ich denke an das Sprichwort »Das Haus verliert nichts« und an: »Home is where the haunt is« (Mark Fisher). Heimsuchungen – ein Heim suchen: heimlich, heimelig, unheimlich. Haunted by haunted houses.
Wenn ich dann am nächsten Morgen aufwache, liegen in meinem Bett, um mich herum: Eine große Keramikschüssel, das Schlüsselbund meiner Mutter, mein Impfpass, das Stofftier meines ersten Freundes, ein Vintage Prada Kostüm, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, eine besonders riesige Kastanie (die erste, die ich in diesem Herbst gefunden habe), eine silberne Brosche, ein Opinel-Taschenmesser und eine Tasse, die ich schon seit meiner Kindheit habe, auf der eine Maus eine umgekippte Flüssigkeit aufleckt. Viele Kinder hatten genau diese Tasse - eine kollektive Erinnerung. Ein Déjà-Vu.
Es gibt ein Foto aus den 90er Jahren. Mein Vater liegt auf dem Boden unseres Wohnzimmers, aber er ist unsichtbar. Ich habe alles, was ich, ein Kindergartenkind, besitze, auf ihm platziert. Würde ich alles, was ich jetzt besitze, nachts in mein Bett holen, um es nie wieder aus den Augen zu verlieren, würde ich vermutlich im Schlaf darunter ersticken. Der große Surplus-Haufen eines Lebens. Spaß und Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden. Farewell, mein Juckreiz einer Kolumne, ich freue mich so auf die Schreibblockade, die vor mir liegt.
Das war die letzte Kolumne von Olga Hohmann. Wir sagen multo merci und wünschen für die Zukunft viel Spaß und Verantwortung!