»Wenn wir nicht versorgt werden, dann können wir unseren Alltag nicht händeln.« Linn Bade ist wütend. Denn sie ist auf eine Persönliche Assistenz angewiesen, um ein eigenständiges Leben führen zu können. Doch nach den aktuellen Haushaltsplänen des Senats sei für eine tarifgerechte Entlohnung der Assistent*innen nicht ausreichend Geld eingeplant, sagt Bade zu »nd«. Deshalb hat das Bündnis für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen am Mittwoch das Gebäude der Senatsverwaltung für Soziales in der Oranienstraße besetzt. »Nach unzähligen Gesprächen mit den Verantwortlichen wissen wir uns nicht mehr anders zu helfen«, so das Bündnis in einer Stellungnahme.
Die Besetzer*innen in der Oranienstraße kämpfen um den Erhalt des Arbeitgeber*innen-Modells[1]. Dieses Modell ermöglicht es Menschen, die auf eine Assistenz angewiesen sind, die entsprechenden Fachkräfte selbst einzustellen. »Wir sind behinderte Arbeitgeber*innen und finanzieren unsere Assistenz aus dem Persönlichen Budget selbst«, sagt Bade. Daneben gebe es noch die Möglichkeit, auf Assistenzdienste zurückzugreifen. Doch viele Menschen mit Behinderungen wollen das nicht.
Allerdings können sie nach den aktuellen Haushaltsplänen die Fachkräfte nicht mehr in derselben Höhe entlohnen wie die Assistenzdienste, weil der 2021 ausgehandelte Tarifvertrag für die Persönlichen Assistenzen[2] nicht weiter vom Senat refinanziert werden soll, sagt Bade. »Wir wollen denselben Lohn für dieselbe Arbeit.« Dabei ist die gleiche Bezahlung von Assistent*innen nach dem Arbeitgeber*innen-Modell und solchen bei Assistenzdiensten gerade erst für dieses Jahr durchgesetzt worden.
Jules Butzek ist in der gleichen Situation wie Linn Bade und ebenfalls an der Besetzung beteiligt. »Für 2026 und 2027[3] ist nicht genug Geld für das Arbeitgeber*innen-Modell eingeplant«, sagt Butzek. Es sei eine Entlohnung nach Entgeltgruppe 3 und nicht wie im laufenden Jahr nach Entgeltgruppe 5 vorgesehen. »So wird es für uns schwierig, Assistenzen zu finden.«
Bade pflichtet dem bei: »Für den Lohn will keiner arbeiten.« Es sei ein schwerer Eingriff in die Selbstbestimmung, wenn aufgrund dieser Lohnungleichheit Menschen mit Behinderung gezwungen seien, auf die Assistenzdienste zurückzugreifen.
»Wir besetzen so lange, bis wir eine Zusage haben, dass unsere Forderungen erfüllt werden«, sagt Bade. Diese müsse rechtlich verbindlich von der Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) und dem Finanzsenator Stefan Evers (CDU) gegeben werden, sagt Butzek. »Denn meistens spielen sie mit uns Pingpong.«
Noch ein weiterer Punkt erzürnt die Besetzer*innen: Der Senat habe eine neue Fachliche Weisung erarbeitet, die zu einer Kürzung des Persönlichen Budgets führe. Dort sei festgelegt worden, wie viel Zeit für Einweisungen, Beratungen und Dienstbesprechungen bezahlt werden darf, sagt Butzek. »Wir wollen, dass sie uns einbeziehen in die Erarbeitung der Fachlichen Weisung und nicht ohne uns über uns entscheiden.« Das Bündnis fordert außerdem eine Rücknahme dieser Reglementierungen in der Weisung.
Auch Timo Lischke hält die neuen Vorgaben für realitätsfern. Er ist Assistent und betreut seinen Arbeitgeber Roland Walter. Beide protestieren vor dem Gebäude der Sozialverwaltung gegen die Senatspläne. »Das betrifft uns beide persönlich: Für Roland ist es ein Eingriff in die Selbstbestimmung, und für die Assistent*innen sind das finanzielle Einbußen«, sagt Lischke zu »nd«. Walter arbeitet als Performance-Künstler[4] und als Workshop-Leiter, daher brauche er die Flexibilität, die Arbeitszeiten seiner Assistent*innen selbst festlegen zu können. Lischke verweist auf eine Online-Petition[5] mit bislang knapp 2500 Unterschriften, um das Arbeitgeber*innen-Modell zu erhalten. »Wir hoffen, dass der Senat uns hört.«
»Meistens spielen sie mit uns Pingpong.«
Jules Butzek Besetzer*in
Vor Ort ist auch Ivo Garbe. Er ist Verhandlungsführer der Gewerkschaft Verdi für die Region Berlin-Brandenburg. »Wir stehen zu 100 Prozent an der Seite der Kolleg*innen im Arbeitgeber*innen-Modell und fordern Senatorin Kiziltepe auf, umgehend zu reagieren, die längst fällige Finanzierung des Arbeitgeber*innenmodells umzusetzen und die Refinanzierung des Tarifvertrags sicherzustellen«, sagt Garbe zu »nd«. Dass das Modell in seiner Existenz bedroht sei, sei schlimm für die Assistenznehmenden, die Assistent*innen, die Inklusion und das soziale Gefüge der Stadt. »Wir brauchen umgehend eine neue Fachliche Weisung und eine Anerkennung des Tarifvertrags.«
Auf eine kurzfristige Anfrage des »nd« antwortete die Finanzverwaltung nicht bis Redaktionsschluss. Die Sozialverwaltung teilt aber mit, dass Senatorin Kiziltepe ausführlich mit den Besetzer*innen gesprochen habe und die Verwaltung deren Forderungen nachvollziehen könne. »Seit über zwei Jahren sind wir im Senat, insbesondere mit der Finanzverwaltung und Senator Evers, im Gespräch, wie eine Refinanzierung von Teilen des Tarifvertrages vorgenommen werden kann«, teilt die Verwaltung mit. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass das Arbeitgeber*innenmodell scheitere, was insgesamt zu höheren Kosten für das Land führen werde. »Unsere Bemühungen, im Senat eine Einigung im Sinne der Assistent*innen zu erzielen, sind bisher leider erfolglos geblieben.«
Bis Redaktionsschluss verließen die Besetzer*innen das Gebäude der Sozialverwaltung nicht. Die weiteren Pläne konnte das »nd« bis zu diesem Zeitpunkt nicht in Erfahrung bringen.