nd-aktuell.de / 06.11.2025 / Politik

Rechtsanwältin: »Die politische Entwicklung braucht Widerstand«

Gabriele Reinecke über Leerstellen im Justizsystem und rassistische Polizeigewalt

Interview: Gisela Dürselen
Interview mit Gabriele Reinecke – Rechtsanwältin: »Die politische Entwicklung braucht Widerstand«

Sie sind bekannt als linke Juristin und ziehen für Ihre Klienten schon mal vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Womit beschäftigen Sie sich aktuell?

Unter anderem mit der Wehrpflicht[1]. Vor der Aussetzung 2011 habe ich totale Kriegsdienstverweigerer verteidigt, die aus Gründen des Gewissens oder der Weltanschauung weder Wehr- noch Zivildienst geleistet haben. Dafür sind sie strafrechtlich verfolgt worden, teilweise waren sie in Haft. Nun wurde vom Merz-Kabinett das »Wehrdienst-Modernisierungsgesetz«[2] beschlossen, das mit einer umfassenden Wehrerfassung einhergehen soll. Schon jetzt kommen Menschen zu mir, die beraten werden wollen, welche Möglichkeiten des Widerstands es gibt.

Der Fall Oury Jalloh[3], eines Geflüchteten aus Sierra Leone, der vor 20 Jahren im Dessauer Polizeigewahrsam verbrannt ist, hat viel Aufsehen erregt. Sie haben sich als Vertreterin der Nebenklage jahrelang um Aufklärung bemüht. Doch der Fall wurde trotz vieler Ungereimtheiten zu den Akten gelegt, warum?

Das Grundproblem scheint darin zu liegen, dass sich Staatsanwaltschaft und Gerichte nicht vorstellen konnten und können, dass Polizisten am helllichten Tag auf einem Polizeirevier in Deutschland einen Menschen anzünden. Oury Jalloh war nicht der Erste, der dort starb.

Gab es Hinweise auf einen rassistischen und rechtsgerichteten Hintergrund bei der Dessauer Polizei?

Nach dem Tod Jallohs soll das Innenministerium Sachsen-Anhalt die Polizei Stendal mit den Ermittlungen beauftragt haben, weil das Revier Dessau schon öfter wegen eines problematischen Umgangs mit ausländischen Bürgern aufgefallen sei. Ein Zeuge der Polizei berichtete im Prozess, er habe darüber einen Vermerk an die damalige Polizeipräsidentin geschickt. Die bestätigte das, doch der Vermerk war verschwunden. Nicht zuletzt wurde bekannt, dass bei einer Führungskräftebesprechung nach dem 7. Januar 2005 ein Polizeioberrat bei der Diskussion um die Dauer des Brandes erklärt hatte: »Schwarze brennen eben mal länger.«

2024 starben in Deutschland 22 Menschen an tödlicher Polizeigewalt[4]. 2025 wurden bis Anfang August bereits 16 Menschen von der Polizei erschossen. Ein strukturelles Problem?

Die Zahlen weisen auf ein massives Problem mit antisozialen und rassistischen Denkmustern in der Polizei hin. Was hilft dagegen angesichts eines sich nach rechts verschiebenden politischen Klimas? Vielleicht lässt sich von dem Fall Stephen Lawrence lernen: Mit 18 Jahren wurde er 1993 in Großbritannien von einer Gruppe weißer Jugendlicher aus rassistischen Motiven erstochen. Die Ermittlungen verliefen zunächst erfolglos. Aufgrund massiven öffentlichen Drucks wurde 1997 eine hochkarätige unabhängige Kommission eingesetzt. Die stellte in einem 1999 veröffentlichten Bericht fest, dass die Ermittlungen der Polizei von professioneller Inkompetenz und institutionellem Rassismus geprägt gewesen seien.

Gab es Konsequenzen?

Der Bericht führte zu einer Neuorganisation der britischen Polizei, ihrer Verfahren und Schulungen. Der Begriff des institutionellen Rassismus wurde in den polizeilichen Sprachgebrauch übernommen. Die Polizei wurde gesetzlich zu mehr ethnischer Diversität verpflichtet. Letztlich führten diese Veränderungen 2012, 19 Jahre nach der Tat, zu einer späten Aufklärung des Falles und zu Verurteilungen wegen Mordes.

Was ist der Unterschied zu Deutschland?

Als Konsequenz aus dem Lawrence-Fall gibt es seit 2018 in Großbritannien ein Independent Office for Police Conduct. Es ist ein Büro, das jährlich Statistiken in Bezug auf Todesfälle während oder nach Polizeikontakt führt und jeden Fall einzeln untersucht. Das ist sicher kein Allheilmittel, in Großbritannien sterben immer noch Menschen aufgrund von Polizeigewalt. Aber es ist zumindest ein Anfang, der ernst genommen werden muss. Auch bei der Polizei in Deutschland gibt es Abteilungen für interne Ermittlungen. Der Fehler liegt darin, dass sie in den Polizeiapparat eingegliedert sind; es sind Ermittlungen gegen sich selbst. So kann es keine wirklich unabhängige Untersuchungsarbeit wegen Polizeigewalt geben.

Sie haben auch Opfer nationalsozialistischer Kriegsverbrechen vertreten, unter anderem im Fall des Massakers der Waffen-SS im August 1944 in dem italienischen Dorf Sant’Anna di Stazzema …

Das ist richtig. Im italienischen La Spezia wurden im Jahr 2005 zehn ehemalige Angehörige einer SS-Einheit in Abwesenheit wegen hundertfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Da Deutsche nicht ausgeliefert werden, hatte das für die Verurteilten keine Konsequenzen. Überlebende aus Sant’Anna di Stazzema haben mich mit der Wahrnehmung ihrer Interessen in Deutschland beauftragt.

Wurden die Schuldigen hier zur Rechenschaft gezogen?

Schon seit 2002 wurde bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen des Massakers ohne Ergebnis ermittelt. Der zuständige Staatsanwalt bezeichnete das Urteil von La Spezia noch am Tag der Verkündung als »Schnellschuss aus der Hüfte«. Mir erklärte er kurz danach, es werde mit ihm keine Mordanklage geben, weil der individuelle Schuldnachweis nicht geführt werden könne. Wenn die Taten wegen fehlenden Mordmerkmals als Totschlag einzuordnen seien, seien sie verjährt.

Wie ist der Fall ausgegangen?

Allein die Durchsetzung der Akteneinsicht hat ein Jahr gedauert. Es wurde behauptet, bei Kenntnis des Akteninhalts durch meine Mandantschaft könnten die Ermittlungen gefährdet sein. Der Inhalt der Akten offenbarte, dass zwei Beschuldigte in Interviews mit den Medien bereits Jahre zuvor die aktive Teilnahme an dem Massaker gestanden hatten. Trotzdem wurde keine Anklage erhoben. 2012 stellte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft das Verfahren »mangels Tatverdachts« ein. Unsere Beschwerde dagegen wurde von der Generalstaatsanwaltschaft verworfen. 2014 aber war unser gerichtlicher Klageerzwingungsantrag gegen den ehemaligen Kompaniechef der SS-Einheit erfolgreich[5]. Die Staatsanwaltschaft wurde verpflichtet, Anklage zu erheben. Das Verfahren wurde wegen der Wohnsitzzuständigkeit in Hamburg weitergeführt, aber 2015 wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Was motiviert Sie, weiterzumachen?

Die politische Entwicklung braucht Widerstand. Der braucht engagierten anwaltlichen Beistand und Solidarität.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195202.musterung-kriegerischer-zeitgeist.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194784.wehrpflichtdebatte-doch-kein-zwangsdienst-per-los.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193404.margot-overath-buch-zum-fall-oury-jalloh-verbrannt-in-der-polizeizelle.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194395.polizeigewalt-die-polizei-tut-was-sie-tut-weil-sie-weiss-dass-sie-es-kann.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/941589.anklage-wegen-ns-massakers-wieder-moeglich.html