nd-aktuell.de / 06.11.2025 / Politik

Island: Von der Macht der Solidarität

Von Island 1975 bis zur Reproduktionskrise: Mit Streik als feministischem Kampfmittel befasste sich eine Tagung der Hans-Böckler-Stiftung

Tanja Röckemann
Geichberechtigungsbewegung = Klassenkampf! Abschlusskundgebung zum Frauenstreiktag am 24. Oktober 1975 in Reykjavik, Island
Geichberechtigungsbewegung = Klassenkampf! Abschlusskundgebung zum Frauenstreiktag am 24. Oktober 1975 in Reykjavik, Island

Am 24. Oktober 1975 stand Island still. »Ein Tag ohne uns« – mit diesem Slogan legten die Frauen des Landes die Arbeit nieder, in Betrieben, Schulen, Haushalten. Es war der erste große Frauenstreik Europas, getragen von einem Bündnis, das vom konservativen Landfrauenverband bis zu den radikalfeministischen, von US-Aktivistinnen inspirierten »Red Stockings« reichte. Ziemlich genau fünfzig Jahre später widmeten sich die Hans-Böckler-Stiftung und der Förderverein des Instituts für soziale Bewegungen in Bochum diesem historischen Ereignis und seinen aktuellen Implikationen. Unter dem Titel »Frauen – Arbeit – Widerstand. Streik als feministisches Kampfmittel« diskutierten am 23. Oktober rund dreißig Teilnehmende, darunter sogar vier Männer, über Geschichte und Gegenwart des feministischen Arbeitskampfs.

Mehr als »Ein Tag frei«

Eröffnet wurde die Konferenz von der Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz, die den isländischen »Freien Tag« von 1975 in Erinnerung rief. Sie betonte, sie wolle nicht historisieren, vieles bleibe aktuell. Der Streik sei ein in seiner Breite einzigartiges Ereignis gewesen, es hätten sich bürgerliche Frauenvereine mit Gewerkschafterinnen, Kommunistinnen mit autonomen Gruppen arrangiert. Notz erinnerte auch an die Konflikte innerhalb der Bewegung, zum Beispiel an jene konservativen Frauen, für die es unvorstellbar war, sich an einem Streik zu beteiligen. Erst nach der Umbenennung in »Ein Tag frei« hatten diese Frauen zugestimmt – ein Kompromiss, der das gemeinsame Handeln ermöglichte, diesem aber auch den Charakter eines Arbeitskampfes öffentlich absprach. In Reykjavik demonstrierten schließlich über 30 000 Menschen, darunter vermutlich auch Partner der streikenden Frauen – zumindest diejenigen unter ihnen, die sich nicht an die Aufforderung ihrer Partnerinnen hielten: »Bleibt zu Hause und tut die Arbeit dort.« Erteilt worden war den isländischen Männern dieser Ratschlag allerdings, so Notz, eher auf die Frage hin, ob sie die Lohnarbeit ihrer Partnerin übernehmen sollten, damit dieser nicht gekündigt würde.

Konkretisiert und bebildert wurden Notz’ Ausführungen direkt im Anschluss durch den Dokumentarfilm »Ein Tag ohne Frauen« (2025, Pamela Hogan und Hrafnhildur Gunnarsdóttir). Es ist ein durchaus berührendes Zeitdokument – durch die Kraft und Euphorie der erfolgreichen politischen Organisierung, die hier sichtbar wird, aber auch durch den schmerzhaften Kontrast zur derzeitigen Schwäche feministischer Kämpfe (und der Linken im Allgemeinen). Bemerkenswert ist allerdings: Die damaligen Aktivistinnen betonen in den für den Film geführten Interviews noch heute, die Erfahrung des erfolgreichen gemeinsamen Kampfes habe ihr Leben nachhaltig geprägt wie keine andere. Sie meinen damit zum einen die damals erkämpften Fortschritte in der Gleichstellung von Frauen, worin Island tatsächlich noch heute besser abschneidet als viele andere Staaten. Zum anderen scheint hier aber auch eine nachhaltige emotionale Stärkung erfolgt zu sein, als habe sich diesen Frauen das Prinzip Hoffnung für immer als realistische Haltung eingeschrieben. Das weckt Neid, aber auch Zuversicht in der Zuschauerin von heute.

Die 1975, im von der UN ausgerufenen »Jahr der Frau«, aufgestellten Forderungen verblieben derweil im Rahmen der Gleichberechtigung innerhalb des Kapitalismus. Es ging um gleichen Lohn für gleiche Arbeit, gerechtere Bezahlung, politische Repräsentation. Revolutionäre Positionen, grundsätzliche Systemkritik kommen in »Ein Tag ohne Frauen« zumindest nicht zur Sprache; zu sehen sind hingegen jene anfangs zögerlichen, konservativen Frauen, die sich der Arbeitsverweigerung schließlich doch anschlossen. Hier wird bei allem Reformismus doch etwas Wichtiges erkennbar: Wenn sich wirklich alle beteiligen, kann das Kampfmittel Streik nicht scheitern. In Deutschland wohl gerade deshalb verboten, kommt diese Aktionsform selbst in Diskussionen über Arbeitskämpfe meist nur am Rande vor. Das gilt auch für die Gewerkschaften heute – trotz der beispiellosen Umverteilung nach oben, die wir derzeit erleben und der wirklich dramatischen (und spezifisch schwer bestreikbaren) Missstände im Gesundheits- und Pflegesystem.

Diversität der Ausbeutung

Von vorneherein außerhalb der Gewerkschaftsstrukturen stand ein Arbeitskampf, um den es im zweiten Panel ging: der »wilde Streik« migrantischer Frauen bei dem Automobilzulieferer Pierburg 1973 in Neuss. Hunderte »Gastarbeiterinnen« aus Südeuropa und der Türkei legten damals die Arbeit nieder. Die Arbeitsbedingungen bei Pierburg waren brutal: Fließbandarbeit im Akkord, kaum Pausen, willkürliche Kontrollen; wer etwa wegen Gesundheitsbeschwerden ausfiel, riskierte eine Abmahnung. Die Arbeiterinnen kämpften gegen die doppelte Hierarchie von Geschlecht und Herkunft, gegen eine »Diversität der Ausbeutung«, wie es die Referentin Nuria Cafaro formulierte. Der Arbeitskampf zeitigte Erfolge, das Unternehmen musste etwa die niedrigste Lohngruppe abschaffen.

Es ist, als habe sich den isländischen Frauen das Prinzip Hoffnung für immer als realistische Haltung eingeschrieben.

Die Erinnerung an den Streik verdeutlicht die gesellschaftliche Bedeutung migrantischer Frauen in Deutschland: Ohne ihre Erfahrungen bleibt sowohl die Erzählung über Arbeitskämpfe in Deutschland als auch über die Frauenbewegung unvollständig. Viele der migrantischen Arbeiterinnen kämpften übrigens auch nach der Rückkehr an ihre Arbeitsplätze weiter, unter anderem um die Bezahlung der Streiktage – ohne Beteiligung der deutschen Arbeiter. Die Frage, warum gerade dieser Arbeitskampf als »wilder Streik« geführt wurde, sprich, warum die deutschen Gewerkschaften für diesen Kampf nicht zur Verfügung standen, kam auf dem Panel leider nicht zur Sprache. Ebenso wenig wurde dieser Frauenstreik auf der Basis von Klasse übrigens von dem Streik auf der Basis von Geschlecht analytisch unterschieden, wie er in Island zwei Jahre später stattfand und zwei Jahrzehnte später auch in Mitteleuropa.

Mit dem Schweizer Frauenstreik 1991, darüber berichtete Sibylle Marti, griff die Idee des Frauenstreiks erneut auf den europäischen Kontinent über. In einem Land ohne Streiktradition – politische Streiks sind in der Schweiz rechtlich kaum zulässig – bildeten sich dennoch lokale Streikkollektive. Ihr Ziel war es, den Zusammenhang von bezahlter und unbezahlter Arbeit sichtbar zu machen. Nur drei Jahre später kam es im frisch vereinigten Deutschland zu einem Frauenstreiktag, als 1994 im Osten gegen den Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) mobilisiert wurde. Ursprünglich eingerichtet, um den massiven sozialen Kahlschlag temporär abzufedern, waren diese Stellen offenbar zu Knotenpunkten von Arbeits- und Sozialkämpfen geworden, unter anderem auch feministischer Selbstorganisation. Auf den Kundgebungen, so die Referentin Michaela Kuhnhenne, hätten damals die Fahnen der GEW und ÖTV geweht, während die Industriegewerkschaften ferngeblieben seien.

Streikproblematik im Care-Sektor

Im letzten Teil der Konferenz nahmen die heute zunehmend geführten Streiks im Gesundheitssystem einen großen Raum ein. Kaum ein Feld macht die Krise der sozialen Reproduktion so sichtbar und kaum eines ist schwieriger bestreikbar, aus naheliegenden Gründen: »Bezahlte Sorgearbeit trifft im Streik nicht die Verantwortlichen, sondern die Bedürftigen«, betonte die Referentin Ingrid Artus. Eine als Hebamme tätige Frau aus dem Publikum nutzte die Gelegenheit, um eindrücklich von den Folgen aktueller Reformen zu berichten, die den Beruf in seiner jetzigen Form infrage stellten: Viele Kliniken haben keine angestellten Hebammen mehr, Geburtenstationen werden geschlossen, Geburtshäuser stehen unter ökonomischem Druck. Buchstäblich unter Tränen richtete die Hebamme die Frage in die Runde, was sich dagegen tun ließe – der Titel der Veranstaltung hatte bei ihr offenbar die Hoffnung auf konkrete Handlungsperspektiven geweckt.

Gute Antworten gab es aber nicht. Das kann natürlich nicht einer einzelnen Konferenz zulasten gelegt werden, zu schwer wiegen all die Krisen und die rechte Hegemonie. Zumindest eine etwas kritischere Positionierung wäre allerdings wünschenswert und wohl auch möglich gewesen. Trotz der Dramatik der Lage kam man auf das Podium über Appelle nicht hinaus, die angesichts der ja auf eben diese Zustände hin kalkulierten Regierungspolitik mehr als hilflos scheinen: Man müsse »sich vernetzen«, »sichtbarer werden«, »Bündnisse schmieden«, vielleicht einmal eine Petition verfassen oder sich an lokale Politiker*innen wenden. Über die Ursache der Misere wurde wenig konkret gesprochen, der Begriff Kapitalismus fiel gar nicht; selbst das Grundproblem der Profitorientierung im Gesundheitssystem wurde nur zögerlich und am Rande benannt.

Was ist nachhaltiger Erfolg?

So blieb eher als stiller Befund stehen: Feministische Kämpfe haben immer wieder beeindruckende Kraft entfaltet, aber sie ließen bislang die ökonomische Ordnung im Grundsatz unangetastet. Dies galt zumal für die Teile der Zweiten Frauenbewegung, die ihre Forderungen im Mainstream etablieren konnten. Die »Feminisierung der Streiks«, auf der Tagung mehrfach als aktuelles Phänomen genannt, zeigt sich hier janusköpfig: Sie verweist auf die wachsende Präsenz von Frauen in der kapitalistischen Arbeitswelt, aber auch auf die hieraus resultierende Doppelbelastung von Lohnarbeit und Sorgearbeit – die so lange bestehen wird, wie es Lohnabhängigkeit gibt.

Außerdem erleben wir momentan, dass selbst die Reformen, die von der Frauenbewegung erkämpft wurden, keineswegs in Stein gemeißelt sind. Gisela Notz formulierte es eingangs bezüglich eines andern Schauplatzes der von »68« ausgehenden Bewegungen – den Antimilitarismus: »Wir dachten damals, es wird keinen Krieg mehr geben – dass es nie wieder so weit kommt, wie es heute ist.« Es wird Zeit für Linke, sich zumindest theoretisch darüber klarzuwerden, was es braucht, um den Spuk ein für allemal zu beenden.