nd-aktuell.de / 06.11.2025 / Reise

Instagram verschlingt Kuala Lumpur

Wie der Tissue-Dosa-Hype ein traditionelles malaysisches Restaurant zum Social-Media-Zirkus chinesischer Touristinnen macht

Robert Lenz
Trophäe für Malaysia-Besucherinnen: Seidenpapier-Dosa in der Tengkat-Tong-Shin-Gasse
Trophäe für Malaysia-Besucherinnen: Seidenpapier-Dosa in der Tengkat-Tong-Shin-Gasse

Instagram hat Kuala Lumpur im Griff. Schon am frühen Augustmorgen stehen junge Chinesinnen vor dem »TG’s« in der Tengkat Tong Shin Schlange – nicht wegen des Essens, sondern wegen eines Fotos. Das traditionelle Roti-Canai-Frühstück mit Dal und Currysaucen, das auf der Speisekarte steht? Interessiert niemanden. Hier geht es um Content, um Klicks, um den perfekten Shot für die sozialen Medien. Die digitale Invasion hat das kleine malaysische Restaurant längst verschlungen.

Die Touristinnen, aufgestylt nach den neuesten Influencer-Trends, erobern seit fast zwei Jahren täglich das »TG’s« in Kuala Lumpurs Stadtteil Bukit Bintang. Wofür? Für ein Selfie mit einem hauchdünnen, knusprigen, einen Meter langen Tissue Dosa – so heißt die aufgetürmte Version des indischen Fladenbrots – für Tiktok und Instagram. Die Plattformen haben gesiegt.

»Wir sind im Urlaub und wollten unbedingt auch ein Foto mit einem Tissue Dosa und einer Kokosnuss«, erklärt Dai, 22, aus Peking, während ihre Freundin Yun ihr »Seidenpapier-Dosa« stolz in die Kamera hält. Dazu gibt’s frische grüne Kokosnuss – die hat sich als perfekte Begleitung zum turmhohen Knusperzeug mit Schokolade oder Honig durchgesetzt.

Wie Social Media alles verschlingt

Restaurant-Manager Kamal kann’s immer noch nicht fassen. »Das läuft seit fast zwei Jahren so«, sagt der 33-Jährige kopfschüttelnd. »Wir machen Tissue Dosa schon ewig. Aber irgendwann nach Corona fraßen sich die Fotos und Videos viral durch die chinesischen sozialen Medien.« Und schon war’s vorbei mit der Ruhe.

Alle wollen ein Selfie mit einem hauchdünnen, knusprigen, einen Meter langen Tissue Dosa.

»TG’s« ist ein Nasi Kandar – falls das jenseits des Internet-Wahns noch jemand interessiert. Diese auf indische Küche spezialisierten Läden sind seit jeher Treffpunkt aller Gesellschaftsschichten. Der Name stammt von indischen Straßenhändlern, die früher in Malaysias Hafenstädten Currys aus Eimern an einer Schulterstange (Kandar) mit Reis (Nasi) verkauft haben. Heute gibt’s hier Buffets mit Currys, Gemüse, Fleisch und Fisch, Naan-Brot aus dem Tandoori-Ofen und natürlich Reis.

Malaysia jenseits der Klischees

Kuala Lumpur steht bei westlichen Touristen nicht so hoch im Kurs wie Singapur oder Bangkok. »Malaysia ist doch islamisch«, sagen viele mit diesem typisch ignoranten Schaudern. Klar ist Malaysia muslimisch geprägt, aber die Hauptstadt lebt von ethnischer und religiöser Vielfalt und einem verdammt entspannten Lifestyle. Diese Vielfalt brutzelt in den Töpfen und Woks der malaysischen Chinesen, Inder und Malaien – bevor Instagram sie nun standardisiert.

Über 20 Jahre war das »TG’s« bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt – wegen der guten Küche, fairen Preise und freundlichen Bedienung. Mittlerweile haben die Stammgäste aus der Nachbarschaft das Nachsehen. Die Gentrifizierung verschlingt die lokale Kultur.

»Früher habe ich oft nach der Arbeit im ›TG’s‹ gegessen. Geht nicht mehr«, sagt der Einheimische Teng Chong frustriert. »Das Lokal ist permanent mit den chinesischen Mädels vollgestopft. Und wenn man doch mal einen Tisch erwischt, dauert alles ewig.« Jedes Dosa wird frisch gebacken – das kann wegen der Instagram-Invasion 40 bis 60 Minuten dauern. Steht auch auf Englisch und Chinesisch auf dem roten Schild am Eingang.

Alternativen im Schatten des Hypes

Aber verhungern muss trotzdem niemand. In den kleinen historischen Shophäusern der Tengkat Tong Shin und den Nachbargassen Jalan Alor und Changkat Bukit Bintang existieren noch Restaurants, Kneipen und Cafés abseits des digitalen Mainstreams – wenn man weiß, wo.

Die Jalan Alor mit ihren roten Lampions ist bereits ein Touristenmagnet für chinesische Küche. In der Changkat Bukit Bintang gibt’s westliches Essen – Pizza, Steak und Kidney Pies, Burritos, Spanferkel. Dazu fließt literweise Alkohol, während aus den offenen Lokalen Musik dröhnt nach dem Motto: Wer am lautesten spielt, gewinnt.

Zwischen dem Lärm der Changkat Bukit Bintang und dem Chaos der Jalan Alor ist die Tengkat Tong Shin fast eine Oase – wären da nicht die Autoschlangen all jener Dosa-Jünger, die auf Parkplatzsuche die Straßen verstopfen. Aus den bengalischen Garküchen für die bangladeschischen Arbeiter strömen würzig-scharfe Gewürzdüfte. Im Restaurant »Kam Fatt« ist die Curry Laksa der Hammer. Auch gegenüber vom »TG’s« kocht jeden Abend ein Chinese unter freiem Himmel Hokkien Mee – Nudeln, gebraten mit dunkler Soße. Auch hier braucht man Geduld: Jede Portion wird frisch im Wok zubereitet.

Fusion-Küche mit Geschichte

Im rustikalen »Muar« direkt neben dem »TG’s« gibt’s die Küche der Baba-Nonya. Diese ethnische Gruppe entstand über Jahrhunderte aus Verbindungen zwischen malaiischen Frauen und chinesischen Kaufleuten. Sie haben nicht nur Gene, sondern auch Rezepte gemischt. Spezialtipp: Hähnchen in gesalzenem Eigelb mit Curryblättern. Oder das Lieblingsgericht des Autors: Shrimps und Tintenfischringe mit grünen Petai-Bohnen in scharfer Sambalsauce. Wer’s doch mal ins »TG’s« schafft, sollte das Kadai-Huhn probieren – gegart in Koriander, Kreuzkümmel, Garam Masala und getrockneten roten Chilis. Grandios. Es muss ja nicht immer ein Tissue Dosa sein.