Leere Versprechungen hat es schon viele gegeben. Angela Merkel (CDU) verkündete als Kanzlerin einst das Ziel, Deutschland solle eine »Bildungsrepublik« werden. Auch die Ampel-Regierung sprach von einem »Jahrzehnt der Bildungschancen«. Gebessert hat sich seither jedoch wenig.[1] Wer das politische Geschehen verfolgt, weiß, in welch schlechtem Zustand sich die Schulen und das gesamte Bildungssystem befinden. Jede neue Pisa-Studie, jeder IQB-Bildungstrend[2] und jedes Schulbarometer[3] der Robert-Bosch-Stiftung legen die Defizite offen – und sorgen kurzzeitig für Schlagzeilen, die tags darauf schon wieder verblassen. Längst hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung eine Gewöhnung an die Misere eingestellt.
Aber der Zustand der Schulen ist nicht gleichbleibend schlecht, vielmehr spitzt sich die Situation zu. Darauf weist das »Krisenbuch Schule. Ein System am Limit«[4] der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) hin. »Die Einrichtungen drohen zu kollabieren«, sagte Nicole Gohlke, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, bei der Vorstellung der Publikation am Donnerstag.
Die Ursachen dafür sind vielfältig: Viele Kommunen verfügen als Schulträger nicht über die finanziellen Mittel, um die Schulen instand zu halten. Überall fehlen Lehrkräfte, wodurch viel zu viel Unterricht ausfällt. Außerdem sind die Klassen in den vergangenen Jahren heterogener geworden. Mehr denn je wäre eine individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen notwendig. Doch darauf haben die Kultusministerien bislang keine hinreichenden Antworten gefunden. Auch der hohe Unterrichtsausfall bleibt ungelöst – und trägt maßgeblich dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler immer weniger lernen, wie zahlreiche Studien belegen.
Das »Krisenbuch Schule« dokumentiert den Alltag an deutschen Schulen anhand von mehr als 60 Erfahrungsberichten von Lehrkräften, Sozialarbeiterinnen, Erziehern sowie Schülerinnen und Schülern. Sie geben selten einen so offenen Einblick in die alltägliche Mängelverwaltung. Eine Lehrerin sucht vor Unterrichtsbeginn verzweifelt nach einem funktionierenden Kopierer. Sie klagt über die vielen kleinen Dinge, die nicht funktionieren: fehlendes Büromaterial, ein unbesetztes Sekretariat, keine Pflaster, streikende Computer und eine überlastete IT-Fachkraft.
Eine Quereinsteigerin im Lehrberuf berichtet, wie sie mit ihrer Klasse backen wollte. »Ach, die Schulküche«, habe man ihr gesagt, »die wurde wegen Schimmelbefalls bis auf Weiteres gesperrt – da können Sie nicht hin.« – »Da stand ich nun mit meinem Hefeteig.« Eine Referendarin schildert die Belastung im Alltag: »Eine 40-Stunden-Woche reicht nicht aus. Ein Wochenende hatte ich schon lange nicht mehr. Panikattacken, Platzangst und Schlafstörungen machen sich bemerkbar.«
Einzelfälle sind das nicht. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) warnt seit Langem, dass Lehrkräfte am Limit arbeiten und mit den Missständen häufig alleingelassen werden. »Das Problem ist jedoch«, erklärt Thilo Hartmann, Vorsitzender der GEW in Hessen, im Gespräch mit Katrin Schäfgen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das im Krisenbuch abgedruckt ist, »dass die Überlastung an Schulen in den meisten Fällen nicht individuell entsteht.« Vielmehr sei sie systemisch bedingt – und lasse sich daher nicht durch Einzelfalllösungen beheben.
Die Problemlage ist vielschichtig. Um dieser gerecht zu werden, wechselt das »Krisenbuch Schule« die Perspektive. Es bleibt nicht bei Erfahrungsberichten und anklagenden Zustandsbeschreibungen stehen, sondern analysiert Ursachen und skizziert Wege, wie die Misere überwunden werden kann.
Naheliegend ist der Reflex, einfach nach mehr Geld zu rufen. Das mag bei der Sanierung maroder Schulgebäude zutreffen – laut KfW-Kommunalpanel beläuft sich der Investitionsstau dort auf rund 68 Milliarden Euro. Natürlich braucht es eine dauerhaft verlässliche Finanzierung des Bildungssystems. Doch ebenso notwendig ist eine tiefgreifende Veränderung der Strukturen.
Schulen können weit funktionaler und moderner sein, als es in Deutschland meistens der Fall ist. Eine starre Trennung in Gymnasium, Real- und Hauptschule könnte überflüssig werden, wenn Lernende individueller gefördert würden – wie es Länder wie Estland oder Finnland bereits erfolgreich vormachen.
Ein weiterer struktureller Schwachpunkt[5] liegt in der Zuständigkeit für Bildung. Das bisherige Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern blockiert dringend notwendige Reformen. »Das muss vollständig aufgehoben und Bildung als Gemeinschaftsaufgabe im Grundgesetz verankert werden«, forderte Nicole Gohlke. Nur durch gemeinsame Anstrengungen lasse sich das Schulsystem wieder auf ein solides Fundament stellen. Damit könne man sich dem Ideal der Chancengleichheit zumindest annähern. Doch daran ist bislang jede neue Bundesregierung gescheitert, obwohl man es sich regelmäßig vornimmt.
Was Schulen wirklich brauchen, beschreiben die Befragten im »Krisenbuch Schule« eindrucksvoll. »Zeit, Zeit, Zeit«, sagt eine Sozialpädagogin. Ein Viertklässler wünscht sich bequemere Stühle und eine andere Anordnung der Tische. Sie sollen nicht alle in einer Reihe stehen, wie beim »Marine-Militär«. Eine Berliner Gymnasiastin rät: »Vergiss niemals die Entspannung. Zu viel Stress ist negativ.« Und eine Lehrerin fragt: »Was wäre, wenn man lernt, wie man selbstständig lernt?«
Diese Stimmen zeigen, dass in den Schulen längst ein neuer Geist entstanden ist – einer, der nach Veränderung und Eigeninitiative ruft. Nun braucht er nur den Raum, um sich zu entfalten.
Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): »Krisenbuch Schule – ein System am Limit«[6], 88 S., gratis.