nd-aktuell.de / 07.11.2025 / Wissen

Tagebücher von Ruth Maier: Zwischen Flucht und Hoffnung

Ruth Maiers Tagebücher und Briefe erzählen von Ihrer Verfolgung, dem Lebensmut und schließlich ihrer Deportation zwischen 1938 und 1942

Karsten Krampitz
Das deutsche Schiff »Donau« deportierte 530 norwegische Juden in die Vernichtungslager, darunter auch Ruth Maier.
Das deutsche Schiff »Donau« deportierte 530 norwegische Juden in die Vernichtungslager, darunter auch Ruth Maier.

Im Osloer Holocaust Center, einer Villa, die früher einmal Hitlers Statthalter Quisling als Residenz diente, gibt es einen Raum der Stille. Besucher werden an eine Fensterfront geführt, wo sich eine Klanginstallation befindet, die mit dem Reflexionsbecken vor dem Gebäude interagiert. Man sitzt auf einer Bank und lauscht der Schiffsglocke. Es ist jene Glocke, die am 26. November 1942 schlug, als am Hafen hier die »Donau« vom Pier 1 am Amerika-Kai ablegte – an Bord 532 jüdische Frauen, Männer und Kinder. Der Blick geht auf ein Wasser hinter der Scheibe. Von Zeit zu Zeit vibriert die Bank, während draußen, nach dem Konzept der Künstlerin Camille Norment, kleine Wellen entstehen. Es soll sich nach einer Bootsfahrt anfühlen.

Wie sich Ruth Maier auf dem Gefangenenschiff gefühlt haben mag, lässt sich nur ahnen. Die aus Wien stammende Jüdin gehörte zu den Menschen, die an diesem Tag verschleppt wurden. Nach dem Schrecken der Novemberpogrome war sie nach Norwegen emigriert, um dann – im Alter von nur 22 Jahren – ausgerechnet auf der »Donau« nach Stettin und von dort nach Auschwitz deportiert zu werden.

Chronistin der Entrechtung

Über Wien, ihre Geburtsstadt an der Donau, hat Ruth Maier ausführlich in ihren Tagebüchern geschrieben. Berichte, die der großen Lebenslüge so vieler Österreicher widersprechen, wonach ihr Land das erste Opfer der nationalsozialistischen Aggression gewesen sei. Die noch nicht ganz 18-Jährige notiert am 27. September 1938: »Als Hitler Österreich im März annektierte, da war von Krieg überhaupt keine Rede. Sämtliche Österreicher jubelten und taumelten vor Begeisterung. Fahnen wurden gehisst, man fiel sich gegenseitig vor Freude in die Arme und küsste sich …« – während die Juden, nunmehr ohne Staatsbürgerschaft, zu »Unmenschen, Schweinen etc. degradiert« wurden. Ruth Maier ist die Chronistin dieser Entrechtung. Tage später vermerkt sie: »Es führt ein Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.«

In Wien leben damals 180 000 Juden und Jüdinnen, Ruth Maier dokumentiert ihre Ächtung. Einmal wird ein jüdischer Mann auf offener Straße von zwei SS-Männern geohrfeigt, einfach so. Der Mann taumelt, hält sich den Kopf und geht weiter – und das am 5. Oktober 1938, an Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsfest! »Ich Ruth Maier, 18 Jahre alt, frage nun als Mensch, als Mensch, frage die Welt, ob dies sein darf… Ich frage die Welt, warum dies erlaubt ist, warum ein Germane, ein Deutscher einen Juden ohrfeigen darf, aus dem einfachen Grund, weil der eine Deutsche, der andere Jude ist! … Und ich will euch sagen, euch allen, euch Ariern, Engländern, Franzosen, die ihr das duldet: Die Ohrfeige, die müsst ihr alle verantworten, denn ihr habt sie geschehen lassen.«

Die Zerstörungen an jüdischen Geschäften in Wien am 10. November 1938
Die Zerstörungen an jüdischen Geschäften in Wien am 10. November 1938

Bereits Wochen vor der »Kristallnacht« plündern SA-Männer Wohnungen jüdischer Bürger, treiben Menschen in den Suizid. Ruth Maier legt davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Und ein Bekenntnis: »Ich bin Jüdin!«, schreibt sie im Rückblick am 16. Oktober 1938: »Und es sollen alle wissen und sie sollen mich auf die höchste Spitze des Kirchturms hängen, mir Fußtritte geben, mich anspucken, mich blau schlagen, ich bin Jüdin … «

»Dass ich Sozialistin bin, ist klar«

Die Aufzeichnungen der jungen Frau sind heute im Holocaust Center in Oslo aufbewahrt. Das Ruth-Maier-Archiv umfasst acht Tagebücher aus der Zeit zwischen 1933 und 1942; hinzu kommen noch 50 Briefe, die zusammengenommen eine Lebensgeschichte von etwa 400 Buchseiten ergeben, die der Dichter und Übersetzer Jan Erik Vold erstmals 2007 in Oslo publizierte. »Ruth Maiers dagbok – en jødisk flyktning i Norge« (zu Deutsch: »Ruth Maiers Tagebuch. Ein jüdischer Flüchtling in Norwegen«) sorgte für internationales Aufsehen, wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Für den deutschsprachigen Raum hat nun der Wiener Mandelbaum-Verlag eine Neuauflage herausgebracht: Ruth Maier »›Es wartet doch so viel auf mich …‹ Tagebücher und Briefe«.

Ihre Berichte sind eine wichtige Quelle über das Leben der wenigen deutschsprachigen Emigranten in Norwegen, wo seinerzeit rund drei Millionen Menschen lebten, von denen etwa 360 000 Männer, Frauen und Kinder von der Armenkasse abhängig waren. Die Regierung in Oslo, auch jene, die seit 1935 von der Arbeiderpartiet gestellt wurde, betrieb lange Zeit eine überaus restriktive Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Ausländer durften der Gesellschaft nicht zur Last fallen und schon gar nicht Einheimische vom Arbeitsmarkt verdrängen. Konnten politische Flüchtlinge bei der regierenden Arbeiterpartei, die ihre Wurzeln in der internationalen Arbeiterbewegung hatte, noch auf Wohlwollen oder zumindest Akzeptanz hoffen – es sei denn, der Flüchtling hieß Leo Trotzki, dem 1936 das Aufenthaltsrecht wieder entzogen wurde –, blieben geflohene Juden und Jüdinnen in der norwegischen Gesellschaft immer Fremde, die nur vorübergehend geduldet waren, in Erwartung des Visums aus einem Drittland. Ein Schicksal, das Ruth Maier mit etwa 430 jüdischen Flüchtlingen in Norwegen teilte. Sie selbst kam vorerst bei einer Gastfamilie in Lillestrøm unter, östlich von Oslo, derweil ihre Familie zum Teil nach England emigriert war oder noch in Wien ausharrte.

Ihre Tagebücher wie auch ihre Briefe erzählen von einem unglaublichen Lebens- und Wissenshunger. Die junge Emigrantin legt ihr Abitur auf Norwegisch ab, steht für Künstler Modell, zeichnet selbst und liest viel, sogar Trotzki. Und doch spürt sie immer wieder Heimweh. »Wenn ich hier ein jüdisches Gesicht sehe«, schreibt sie am 26. Juni 1939, »fühle ich einen schrecklichen ›Drang‹ hinzugehen, ohne Genieren hinzugehen zu dem Juden und ihn zu fragen, mit ihm zu sprechen etc.!« Dabei versteht sie sich nicht als religiöse Jüdin. »Nein, ich mag das Wort Gott nicht mehr leiden. Dass ich Sozialistin bin, ist klar. Außerdem auch Zionistin, glaub ich« – was in ihren Augen keinen Gegensatz darstellt. Anfang Oktober 1939 schreibt sie: »Über das Studium der Gedankenskrupel, ob Sozialismus dem Zionismus nicht widerspricht, bin ich hinaus. … Ich bin felsenfest überzeugt, dass die Juden heute nur in Palästina ihre Heimat haben.« Was für eine Reflexion, eine 19-Jährige schreibt das!

Die spröde Herzlichkeit der Norweger hat es ihr angetan. Im Tagebucheintrag vom 7. Juni 1939 findet sich der Satz: »Die Norweger, die ich kennengelernt hab’, die sind alle behaglich und gemütlich eingestellt.« Ruth Maier liebt die Fjorde, das Meer, die Berge. Noch keine 20, will sie ihr Leben genießen. Ihre Familie aber, ihr altes Umfeld fehlt ihr. Im Haus ihrer Gastfamilie fühlt sie sich eingeengt. Und doch schreibt sie: »Ich hab auch die Norweger soo lieb.«

Die Deutschen sind wieder da

Als sowjetische Truppen am 30. November 1939 Finnland überfallen, beharrt die Regierung Norwegens auf ihrer Neutralität, während sich in der Bevölkerung eine Welle der Solidarität zeigt. Ruth Maier notiert: »In der Schule stricken wir Hemden für die Finnen.« Interessant auch ihre Beobachtungen zur kommunistischen Partei Norwegens, Norges Kommunistiske Parti, die bei den Wahlen 1936 ganze 0,3 Prozent der Stimmen errungen hatte.

Ruth Maier zeigt sich irritiert: »Die Kommunisten sind hier wirklich ganz und gar abhängig von Moskau. Sie verteidigen auch den Überfall der Sowjets auf Finnland etc.« Der Angriffskrieg der Sowjetunion gegen das kleine Land im Osten Skandinaviens (fast möchte man von einer »Spezialoperation« sprechen) scheint überall Thema gewesen zu sein. Ruth Maier dazu: »Die Norweger sind eben sehr sympathisch. Wie sagt man nur? Ja, sie sind ein demokratisches Volk.« Sogar Pazifisten begegnen ihr. Im Eintrag vom 7. Februar 1940 schreibt sie: »Wenn Russland Norwegen angreifen sollte, wollen sie sich nicht wehren, sondern mit eben sogenannten ›geistigen Waffen‹ kämpfen. Geistige Waffen kontra Konzentrationslager! Ha! Ha!«

Doch anders als im Ersten Weltkrieg wird Norwegen diesmal nicht verschont bleiben. Am 11. April 1940 notiert Ruth Maier: »Flugzeuge mit schwarzen Kreuzen flogen hoch oben wie ekelhafte Raubvögel. Schwarz und fett sind sie auf dem blauen Himmel. … Deutsche sitzen oben am Steuer. Ich kann sie nicht mal hassen. Ergeben merk ich: Sie sind wieder da …« In Oslo aber wird niemand applaudieren, wenn die deutsche Wehrmacht einmarschiert – unter ihnen auch Soldaten aus Österreich. Obschon die norwegischen und britischen Truppen heftigen Widerstand leisten, muss das Land nach zwei Monaten kapitulieren.

Das Gros der Bevölkerung aber verweigert die Kollaboration mit den Besatzern. Im Eintrag vom 7. April 1941 heißt es: »Trotz des Drucks der Propaganda etc. halten sich die Norweger gut. Man trifft oft auf Menschen, die lieber ihre Stellung riskieren, als sich zu prostituieren. Darum sind mir die Norweger sehr sympathisch. Es ist etwas Aufrechtes in ihrem Wesen. Noch nie habe ich so gute Hände gedrückt wie hier.«

Ruth Maier, vermutlich im Frühjahr 1941 in Südwestnorwegen
Ruth Maier, vermutlich im Frühjahr 1941 in Südwestnorwegen

Offensichtlich ahnt sie nicht, in welcher Gefahr sie lebt. Am 25. April berichtet Ruth Maier von einer Veranstaltung der Quisling-Regierung: »Sehr hübsch war es gestern! Minister Lunde (N.S.) hielt eine Rede auf dem Marktplatz. Von der Nasjonal Samling, der einzig erlaubten Partei, wurde großer Zustrom erwartet … Die Zahl der Besucher war minimal. Ein kleines Häuflein Menschen war um den Stuhl des Redners versammelt. Es war lächerlich und sehr erhebend. Wir dachten: So umjubeln die Befreiten ihre Befreier.«

Auch viele Norweger wollen den Schrecken des Nationalsozialismus in seinem Ausmaß lange Zeit nicht wahrhaben; nicht wenige versuchen sich einzurichten. Aber es gibt Widerstand. Am 1. Dezember 1941 schreibt Ruth Maier: »Vor ein paar Tagen wurden fünf Norweger erschossen: Sabotage. … Die Norweger halten weiter aus. Ich liebe sie. Sie sind ein tapferes Volk. Sie lassen sich nicht zur N.S. zwingen.«

Ewiger Flüchtling, ewige Intellektuelle

In ihren Tagebüchern und Briefen gibt Ruth Maier auch viel von ihrer Einsamkeit preis, als Frau und Jüdin. »In mir drin ist eine Traurigkeit, die ich auszuweinen versuche.« Sie erleidet einen Nervenzusammenbruch, verbringt einige Zeit in der Psychiatrie. Über all das schreibt sie, auch von ihrer Liebe zu Gunvor Hofmo, allerdings sehr zurückhaltend. »Aber was zwischen Gunvor und mir ist, ist zu heilig, als dass Worte daran rühren dürfen.« Hofmo, die später in Norwegen als Dichterin berühmt wird, versuchte nach dem Krieg ihren Verlag zu bewegen, die Tagebücher ihrer ermordeten »Zwillingsseele« herauszubringen, ohne Erfolg. 1953 erkrankte sie schwer an Schizophrenie und sollte viele Jahre keine Zeile veröffentlichen. Gunvor Hofmo starb 1995. In ihrem Nachlass fanden sich die Tagebücher der Geliebten. »Ruth Maier, die Jüdin«, schreibt Herausgeber Jan Erik Vold im Vorwort. »Der ewige Flüchtling. Die ewige Intellektuelle. Die ewige Künstlerseele. Die ewige Androgyne. Die ewige Außenseiterin. Stark und heimatlos. Ein Mitmensch.«

Die Massenverhaftung findet am 26. November 1942 statt. 300 Mann, zusammengesetzt aus Polizei und »Hirden« (der SA-Truppe Quislings) sowie Gestapo, nehmen an der Aktion teil, wofür sogar Taxis requiriert werden. Eine junge Frau, die im selben Pensionat wie Ruth Maier wohnt, wird später erzählen, dass die Verhaftung ruhig vor sich ging. Zwei norwegische Polizisten führten die 22-Jährige die Treppe hinunter zu einem wartenden Auto. Ruth Maier musste auf dem Rücksitz Platz nehmen, »wo bereits zwei in Tränen aufgelöste junge Mädchen saßen«. Jemand aus dem Pensionat hatte ihr noch angeboten: »Wir können deine Goldarmbanduhr aufbewahren, bis du zurückkommst.« Worauf die Festgenommene zur Antwort gab: »Ich werde nie zurückkommen.«  

Ein paar letzte Worte sind überliefert, aus einem von Bord geschmuggelten Brief an Gunvor Hofmo. Ruth Maier schrieb ihrer Liebsten: »Warum sollen wir nicht leiden, wenn so viel Leid ist? Sorge dich nicht um mich.«

Ruth Maier: »Es wartet doch so viel auf mich«. Tagebücher und Briefe. Wien 1933 – Olso 1942, herausgegeben von Jan Erik Vold. Mandelbaum, 432 S., br., 28 €.