nd-aktuell.de / 07.11.2025 / Kultur

Leonhard F. Seidl: Grenzgänger im Gelände

In Erzählungen und Essays erkundet Leonhard F. Seidl die Möglichkeiten des Nature Writing

Wolfgang Scherreiks
Die Betrachtung toter Karpfen kann die Textproduktion anregen, ebenso balzende Kuckucke.
Die Betrachtung toter Karpfen kann die Textproduktion anregen, ebenso balzende Kuckucke.

Auf Streifzügen durch Nationalparks und andere freie Orte verknüpft Leonhard F. Seidl Naturerfahrung, historische Quellen sowie Begegnungen mit Tieren und Menschentieren. Folgt er dem Wasserstrom im bayerischen Taubertal, formt sich die Landschaft neu: »Durch das Tor unter der Steige strömt es über die zusammengepressten Schichten des Kalkschlamms ins Unterland – aus Millionen Jahre altem Leben geformte Hänge, Rücken, Brust und Eingeweide des Tales.«

Für Naturphänomene gelingen ihm passende Bilder. Ein See ist »fischförmig«. Der Wald darüber verdunkelt sein Wasser »bis zu den Kiemen«. Dabei beschönigt der genaue Blick nichts. Etwa wenn er den Tod in Gestalt eines Karpfenkadavers betrachtet, in dessen ausgeweideter Augenhöhle eine Made wurmt. Gleich danach spürt sein Ohr neuem Leben nach, wenn »das Echo des balzenden Kuckucks« von den Bäumen widerhallt.

Die Orte, an denen der Autor dem titelgebenden Eisvogel begegnet, werden zur Metapher für Grenzüberschreitungen. An der Linie des früheren »Eisernen Vorhangs« im österreichisch-tschechischen Nationalpark Thayatal/Podyjí sowie im Taubertal, wo sich zwei Flüsse vereinen. Dabei heben sich nicht nur Nationalstaaten, Innen und Außen, Gestern und Heute auf. Wenn sich der Vogel zur Jagd aufpumpt, scheint die Zweiteilung von Natur und Kultur vorbei. Und der Beobachter hellwach.

Mitunter wird die Umgebung zum Trostraum: »Das schmucke kleine Schandtaubertal, das mich in seine Arme nimmt, vor dieser und meiner Welt voll Ruhelosigkeit schützt.« In Kurztexten führt das Thema Grenzüberschreitung zu unterschiedlich extremen Formen der Auslöschung. Da ist die buddhistische Verlöschung der Ich-Illusion, die auf Transparenz mit der Natur, »wechselseitiges Verwobensein« und eine meditative, rezipierende Schreibpraxis zielt.

Vor dem Hintergrund der Frage, ob die Erde besser dran wäre ohne Menschen, wird mehrfach die Auslöschung der gesamten Existenz durchgespielt, etwa in der masochistischen Idee zu verhungern, »um der Erde nicht weiter zur Last zu fallen«. In einer Hommage an Marlen Haushofers »Die Wand« wird die Abwesenheit von Menschen auf das persönliche Verlustthema des Ich-Erzählers zurückgeführt. Ein Kurzthriller treibt Selbst- und Fremdauslöschung auf die Spitze, wenn ein Ökoextremist inmitten einer Überschwemmungskatastrophe mit einem akrobatischen Akt sein Leben beendet. Und damit das des gekidnappten Umweltministers wohl ebenso.

Die Möglichkeiten des Nature Writing zeichnet Seidl in einem längeren Essay nach. Es könne dem politischen Protest, dem Engagement gegen die Klimakrise oder der Archivierung des Verlorenen dienen. Ergänzt wird das um einen die Achtsamkeit schulenden Zen-Buddhismus, für eine Art Nunc stans, einer zeitlosen Gegenwart. Wiederholt kritisiert Seidel die Romantik: Ihre Darstellung von Natur als Selbstspiegelung des Menschen, ihre Ausbeutung und Überformung durch symbolische Bedeutung habe ein Nature Writing in Deutschland verhindert.

Damit vernachlässigt Seidel allerdings einige Impulse der Frühromantik: Friedrich von Hardenberg alias Novalis öffnete in seinen philosophischen Schriften Wege für das Genre und setzte dabei auf einen universalen Naturbegriff in Abgrenzung vom Herrschaftsdenken des Menschen über die Natur. Hinzu kommt seine Aufmerksamkeitsforderung »mit allen Sinnen«, die Natur und Dichter vereint.

Auch Bettina von Arnim entwickelte Momente der Ich-Auflösung. Mit ihrer Pappel-Poetik verweist sie auf die Bedeutung des Pflanzlichen für biotische Prozesse. Nicht zuletzt prangerte sie die Folgen der Industrialisierung für das Ökosystem an.

Über die verschriftlichte Naturerfahrung die Welt zu verändern, das traut auch Leonhard F. Seidl dem Nature Writing zu. Ziel des Genres sei es, eine »naturkulturelle Revolution« anzustoßen, »damit die Gesellschaft wieder lernt, sich als Teil der Natur zu begreifen, oder diese Dichotomie sogar auflöst«.

Den Buchmarkt bestimmen indes Populär-Naturschreiber wie der Förster Peter Wohlleben, dessen Waldbäume zu sehr menscheln. Anspruchsvolles Nature Writing schreibt meist noch ein kleiner Kreis von Akademikern für Akademiker. Schon der literarisch gelungenen Meditationen im Gelände halber wünscht man dem »Eisvogel« eine Verbreitung darüber hinaus. Im Hosentaschenformat ist der Band auch bestens geeignet als kritischer Begleiter für eigene Naturerkundungen.

Leonhard F. Seidl: Beim Anschüren des Eisvogels. Nature Writing oder vom Schreiben aus dem Gelände. Killroy Media, 120 S., br., 19 €.