nd-aktuell.de / 10.11.2025 / Politik

Odessa wird ukrainisiert

Aktivisten warnen vor »Zerstörung russischsprachiger Kultur«

Bernhard Clasen
Überschaubare Protestaktion vor dem Puschkin-Denkmal in Odessa am 8. November 2025
Überschaubare Protestaktion vor dem Puschkin-Denkmal in Odessa am 8. November 2025

Gerade einmal drei Männer waren dem Aufruf des Aktivisten Leonid Schtekel in der südukrainischen Stadt Odessa am Samstag zu einer Mahnwache vor dem Puschkin-Denkmal der Stadt gefolgt, um sich für den Erhalt der russischsprachigen Kultur, Denkmäler und Traditionen einzusetzen. Ihr Protest richtet sich vor allem gegen das staatliche Institut für Nationales Gedächtnis der Ukraine[1]. Dieses, so Organisator Leonid Schtekel zu »nd, stehe hinter den Vorhaben der städtischen Machthaber, für die Bewohner wichtige Kulturdenkmäler in der Hafenstadt entfernen zu lassen. Mit derartigen Vorhaben wollten die Stadtoberen »die Geschichte und Kultur Odessas auslöschen«.

»Die Namen von bekannten Persönlichkeiten, die eng mit der Geschichte von Odessa verwoben sind wie Puschkin, Wyssozki, Babel, Ilf und Petrow, Katajew und Bagritski[2], verschwinden aus dem Stadtbild. Ihre Bücher werden aus Bibliotheken entfernt, ihre Denkmäler abgebaut«, sagte der Aktivist. Auch das Puschkin-Denkmal, vor dem sich die Aktivisten versammelt hatten, ist nicht mehr zu sehen. Ein riesiger blauer Kasten mit einer Karte des historischen Stadtzentrums von Odessa verhüllt Puschkin, den die Bevölkerung offenbar nicht mehr sehen soll.

Puschkin wird von Brettern verhüllt

Das Denkmal für Alexander Puschkin in Odessa, so Leonid Schtekel, sei zunächst mit Farbe beschmiert und nun mit Brettern verhüllt worden – offiziell zum Schutz, tatsächlich aber als Vorbereitung für einen Abbau, glaubt er. Ähnlich sei in der Vergangenheit mit dem Denkmal für die Gründer Odessas verfahren worden, das nach einer langen Kontroverse letztlich abgerissen wurde.

Schtekel, der die Mahnwache am Samstag organisiert hatte, konnte selbst nicht kommen. Er war vom Inlandsgeheimdienst SBU just zu elf Uhr, dem Beginn der Aktion, vorgeladen worden. In dem stundenlangen Verhör sei er zu seiner politischen und gesellschaftlichen Tätigkeit befragt worden, sagt er.

Eingriff in das kulturelle Vermächtnis

Das Abreißen von historischen Denkmälern in der Hafenstadt, so Schtekel, sei eine »systematische Kampagne«, die an die Methoden der chinesischen Kulturrevolution erinnere.

»Die Bücher von bekannten Persönlichkeiten, die eng mit der Geschichte von Odessa verwoben sind, werden aus Bibliotheken entfernt, ihre Denkmäler abgebaut.«

Leonid Schtekel Organisator der Mahnwache

Unterdessen wandten sich am Wochenende über 100 Personen des öffentlichen Lebens an den Chef des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedächtnis, Oleksandr Alfjorow[3], nachdem dieses eine Liste von Personen veröffentlicht hatte, die Symbole russischer imperialer Politik seien und deren Namen deswegen aus dem öffentlichen Raum verschwinden sollten. Viele dieser Personen stehen in einem direkten Zusammenhang mit Odessa. Das von der Leiterin des odessitischen Vereins Ukrainian Cosmopolis, Anastasia Piliavsky, initiierte Schreiben warnt vor einem Eingriff in das kulturelle Erbe und die kulturelle Identität der Stadt.

Besonders umstritten ist die Aufnahme dreier Persönlichkeiten in die Verbotsliste: Iwan Bunin, Graf Michail Woronzow und Alexander Puschkin. Diese Figuren seien, so die Odessitin Pilyavsky, Professorin für Anthropologie am King’s College London, integraler Bestandteil der kollektiven Erinnerung Odessas. Ihre ethnografischen Studien hätten gezeigt, dass die meisten Einwohner sie nicht als Symbolfiguren des russischen Imperialismus betrachteten, sondern als Repräsentanten der Stadt selbst – als Teil ihrer Geschichte, ihres Geistes und ihres europäischen Selbstverständnisses.

Graf Woronzow gilt in Odessa als Reformer und Stadtgestalter, der Bildung, Wissenschaft und Wohltätigkeit förderte. Literaturnobelpreisträger Bunin habe die Schrecken der bolschewistischen Revolution angeprangert. Puschkin wiederum, nach Odessa wegen seiner antizaristischen Haltung verbannt, sei in der Stadt eher als Symbol der Freiheitsliebe bekannt – nicht als Vertreter imperialer Macht.

Gefahr für das Unesco-Welterbe

Pilyavsky verweist zudem darauf, dass Denkmäler dieser Persönlichkeiten Teil der Altstadt von Odessa sind, die 2023 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Eine Entfernung der Denkmäler könnte zu einem Verlust des Unesco-Status führen.

Das Institut für Nationales Gedächtnis der Ukraine spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung der staatlichen Erinnerungspolitik der Ukraine. Es sieht sich in der Pflicht, für eine gerechte Darstellung der Geschichte des ukrainischen Volkes zu sorgen, und will insbesondere unter den staatlichen Bediensteten den Patriotismus fördern. Es hat eine Reihe von Gesetzesänderungen und Gesetzen erarbeitet, die das Selbstverständnis der ukrainischen Nation prägen sollen. Und es spielt eine zentrale Rolle bei der Beseitigung von Symbolen der ehemaligen UdSSR aus dem öffentlichen Raum. Sein Chef Oleksandr Alfjorow hat seine Wurzeln bei der von dem Rechtsradikalen Andrij Bilezkyj gegründeten Asow-Brigade. Diesem hatte er längere Zeit als Pressesprecher gedient.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186968.gesetz-zur-entkolonialisierung-odessa-streit-ueber-die-ausrichtung-der-ukraine.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188559.ukraine-wyssozki-ist-einfach-ein-teil-von-odessa.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192288.ukraine-ex-asow-sprecher-alfjorow-ein-nazi-fuer-die-erinnerung.html