nd-aktuell.de / 19.11.2007 / Politik / Seite 8

Raúl Castro will Ergebnisse sehen

Offene Aussprache in Kuba über dringend notwendige Veränderungen in der Gesellschaft

Leo Burghardt, Havanna
In diesen Tagen wäre laut Statut der 7. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas fällig gewesen. Aber er fand nicht statt, wie auch der 6. nicht stattfand. Jene Kubaner, denen es überhaupt aufgefallen ist, sagen, sie hätten auch nichts anderes erwartet.

Wie soll man ein neues politisches Grundsatzdokument ausarbeiten und diskutieren, wenn so viel in der Schwebe hängt? Vor 16 Monaten gab Fidel Castro wegen einer schweren Krankheit seine Ämter provisorisch an ein Kollektiv unter Führung seines Bruders Raúl ab und prophezeite, dass »die 80-jährige Maschine, die da repariert werden muss, nicht von heute auf morgen wieder funktioniert«. Da er bisher selbst nichts mehr über seinen Genesungsprozess gesagt hat und die Kubaner doch gern wissen würden, wie es zumindest mittelfristig weitergeht, beobachten sie genau, was Hinweise auf den Zustand des Kommandanten geben könnte.

Aktuellste Beispiele: Fidel Castro, der sich seit März kontinuierlich als Autor oft sehr langer Leitartikel unter dem Titel »Über-legungen/Reflektionen des Comandante« meldete, tritt neuerdings sehr viel kürzer. Hat sich sein engstes Umfeld durchgesetzt? So verweigerte sein älterer Bruder Ramón bei einem Pressegespräch zwar nähere Auskünfte (»Ich bin Bauer und kein Mediziner«), räumte aber immerhin ein: »Wir versuchen, seinen Tatendrang zu bremsen.« Oder haben seine Kräfte nachgelassen? Einer von Fidels Söhnen, Antonio, ist Orthopäde und Chefarzt der kubanischen Baseball-Nationalmannschaft. Doch bei deren Auftritt in Taipeh ist er nicht dabei. Will er sich nicht allzu weit vom Vater entfernen? Was muss man davon halten, wenn sich

Raúl Castro während des Hurrikans Noel nicht wie die anderen Mitglieder des provisorischen Regierungskollektivs an den Brennpunkten zeigt? Blieb er wegen Fidel in Havanna?

Parallel dazu werden jedoch Venezuelas Präsident Hugo Chávez oder der kubanische Vizepräsident Carlos Lage und Parlamentspräsident Ricardo Alarcón nicht müde zu betonen, dass Fidel Castro rastlos liest, schreibt, meditiert, telefoniert und wichtige Entscheidungen, die das Regierungskollektiv beschließt, mitträgt. Der Stil Raúl Castros ist anders als der seines Bruders: Es gibt keine langen Reden, keine Versammlungen bis zum Morgengrauen. Es wird offen kritisiert. Er ist unduldsam gegenüber der Unfähigkeit von Funktionären und Betriebsleitern. Er fordert Ergebnisse. »Raúl ist ein Mann, der überlegte und effiziente Anordnungen fällt«, konstatierte Ian Delaney, der Exekutivpräsident der kanadischen Sherritt International. Der Wechsel habe sich in keiner Weise negativ ausgewirkt. Doch überspielt Raúl Castro nie, dass er Interimspräsident ist.

Das entspricht auch der Meinung der meisten Kubaner. Doch sie wollen mehr und glauben, den von ihm beabsichtigten Initiativen für ein großes »Reinemachen« würden durch den gegenwärtigen Schwebezustand Grenzen gesetzt. Niemand hat vergessen, womit Fidel Castro im November 2005 in der Universität Havanna die Kubaner schockierte. Zum ersten Mal sagte er, die Revolution sei zerstörbar. Aber nicht von außen, sondern durch die eigenen Irrtümer und Versäumnisse, exzessiver Bürokratismus etwa, Egoismus, Schlamperei, Korruption, weil man bei Leitern die Einsatzbereitschaft werte und nicht, was dabei herauskommt, Selbstzufriedenheit und die Verkümmerung wichtiger revolutionärer ethischer Werte.

»Was bereitet den Kubanern Sorge?« Unter dieser Überschrift veröffentlichte die kubanische Zeitschrift »Bohemia« im Juli die Resultate einer Umfrage. Dabei wurden unter anderem genannt: die katastrophalen Schwierigkeiten im Personentransport (sie sind inzwischen deutlich geringer geworden), die hohen Preise für alle Arten von Konsumgütern und Dienstleistungen im Vergleich zu den niedrigen Löhnen und Renten, Wohnungsnot, die Korruptheit mittlerer Funktionäre, Dienstleister und Betriebsleiter – dagegen ist ein Feldzug gestartet worden, Ausgang allerdings offen. Der Kampf ums tägliche Brot ist ohne Zweifel das Problem, das am meisten nervt. Denn die ätzenden stundenlangen täglichen Stromsperren sind vorbei.

Raúl Castro forderte im September die Kubaner auf, frei von der Leber weg ohne Furcht auf den seither stattfindenden Nachbarschafts- und Betriebsversammlungen auszusprechen, was sie bedrückt, zum Beispiel der Dogmatismus und die Bürokratie. Man will die produktiven Kräfte freisetzen, die bisher »in Fesseln lagen«. Nach der Auswertung sollen ab Anfang 2008 Maßnahmen eingeleitet werden, um allmählich die Missstände zu beseitigen, »die die Bevölkerung irritieren«. Ohne großes Aufheben ist damit bereits in Ansätzen begonnen worden.