nd-aktuell.de / 10.11.2025 / Kultur

»radio.garden«: Im Reich der fliegenden Nonne

Auf der Website »radio.garden« kann man sich verlieren, bis man sich findet

Klaus Ungerer
Wie ein Pfeil zieht sie vorbei, und es dröhnt in meinen Ohren
Wie ein Pfeil zieht sie vorbei, und es dröhnt in meinen Ohren

Ich habe die Welt bereist. Das schien mir als Thema mal angemessen. Für die nd-Lesenden war mir dabei keine Strecke zu weit, keine Erfahrung zu wüst, keine Kultur zu fremd. Als Erkundungsmittel der Erdkugel stand mir die vielleicht schönste Website der Welt zu Gebot: Auf »radio.garden« hat man Direktkontakt mit dem Weltgeist, hier teilt er sich unmissverständlich mit, ohne dabei auf Sprache angewiesen zu sein.

Seit 2016 kann man auf »radio.garden[1]« einen bildschirmgroßen Globus drehen, und weithin über den Globus verteilt leuchten verheißungsvolle kleine grüne Punkte: Das sind Radiostationen auf der ganzen Welt. Überall dort kann man sich hinbegeben, mit einem kleinen Wink mit der Maus, überall dort eintauchen ins Feeling. Wo gehörst du wohl eigentlich hin, Feuilletonist an einer Straßenkreuzung in Berlin?

Zunächst bin ich ein paar Sekunden über die Antarktis geflogen, jenen ja weitgehend unerforschten Kontinent, der sich vor Aufkommen der Menschheit unter einem dicken Schonbezug aus Schnee versteckt hat – nachvollziehbar, musikalisch aber wenig ergiebig. So wollte ich mich über Feuerland und Chile hochpirschen, mich eine Weile im Regenwald verlieren – was aber nicht gelang. Der vorherrschende Brunftgesang in den südamerikanischen Radios glitt an mir ab, Gefühle wie Verdauungsbeschwerden, deutschem Popgut gar nicht unähnlich, ab und zu verweilte ich bei ein paar Ruheständler-Folklorekapellen – aber Südamerika konnte mich nicht halten. Adios!, rief ich ihm zu. Sollte der Weltgeist kein Plätzchen für mich haben, sollte ich verurteilt sein, ruhelos durch die Stratosphäre zu treiben?

Die Bumsmusik in den USA war ganz schlimm. Erst hinterm Atlantik, über Helsinki, fühlte ich mich erstmals wieder lebendig.

Beim Überflug tackerte und umpf-umpfte mich eine Station aus Mexiko an, irgendeine Stadt, von der ich noch nie gehört hatte, sicher höchstens fünf bis zehn Millionen Einwohner, gestern noch Agaveplantage. Aus Mexiko kommen zwei gute Freunde von mir, Yolanda und Mezcal. Aus ihrem Land aufsteigend, spürte ich nun erstmals, dass etwas Schönes, Aushaltbares mich umfangen wollte.

Diese Verschnaufpause war dringend nötig, denn der Überflug über die USA erwies sich als stumpfe Bumskultur-Hirnmangel; aus allen Kanälen röhrten einen Jon Bon Giovi, Bryan Adams oder ihre durchgeschwitzten Mannschaftskollegen an, oder es kam halt der Jaulpop leicht bekleideter Schmachterinnen, die beim Mayonnaiseverkauf mithelfen wollen … Relativ vergeblich suchte ich Städte mit klingenden Popmusik-Namen ab – Seattle, Portland, Chicago, Minneapolis – und verfatzte mich dann, mit letzten schwindenden Kräften, wie eine Hummel im Herbst, über den Nordatlantik nach Europa. Ich bin, scheint’s, doch ein Altweltaffe.

Über Helsinki fühlte ich mich zum ersten Mal wieder lebendig, als mich die Töne von »Kaaosradio Chiptune« erreichten: elektronische Beats unter Blechmelodien, als wäre man im Vorspann eines 80er-Jahre-Computerspiels gefangen, ganz kurios. Eine kleine Delle in der Musik nutzend, sprang ich über einen Ostseebusen, und Tallinn lud mich ein, seine 73 Radiosender zu inspizieren.

Bei »Raadio 2 Chill« kam ich erstmals zur Ruhe. Die Beats nicht zu aufdringlich, der Gesang nicht zu aufgekratzt (wenn er denn vorkam); der Sound weder zu schrill noch zu platt – der perfekte Sound, um etwa eine Zeitung vollzuschreiben. Gefühlte Monate verweilte ich dort, in Tallinn, bei »Raadio 2 Chill«, im Auftrag der nd-Lesenden, ehe ich mich wieder an meinen Auftrag erinnerte. Da war ja noch eine Welt zu erkunden! Über Belgien fliegend, wo seit den Tagen von »dEUS« gute Musik zu erwarten sein konnte, dann Paris und seine afrikanischen Sender kurz streifend, machte ich mich schließlich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln.

Gab es nicht in meiner Jugend dieses tolle neuseeländische Plattenlabel, Flying Nun? War dort nicht immer, auf der anderen Seite der Erde, eine gefühlte Heimat gewesen? Sekunden später traf ich dort ein, Asien für später aufsparend, und gleich fühlte sich alles viel heimeliger an als in den bräsigen USA: Der Neuseeländer, sein Schaf und ich – wir sind doch seelenverwandt. Es gab hübsche Radiostationen zu entdecken, und tatsächlich fand ich in Dunedin einen Sender Radio One 91 FM, der mindestens zeitweise den NZ-Sound der 80er/90er sehr geschmackvoll pflegte, jenen heute weithin vergessenen Dunedin-Sound, der jeden amerikanischen oder britischen Schrammelpop locker eingesargt hatte …

Das war schön. So gestärkt flog ich noch einen Kontinent weiter. Und was soll ich sagen: Aus Westafrika komme ich nie wieder raus. Ist sonst die ganze Welt von grauem Mehltau des US-Pop überzogen – den Leuten in Westafrika ist das offensichtlich komplett egal! Sie machen ihre eigene Musik, voller interessanter, verspielter Rhythmen, lebensfroher Stimmen, deren Sprache man zum Glück nicht versteht – eine sprudelnde Beschwingtheit, die sich nicht zu scheren braucht um eine Unterscheidung zwischen Folk und Pop … Gott, ist meine Laune gut hier. Schöne Grüße aus Dakar!

Links:

  1. https://radio.garden/