Der »Lange Marsch« ist legendär. Ohne ihn hätte die Kommunistische Partei Chinas niemals den Bürgerkrieg gewonnen. Damit ihre Armee nicht von der damals weit überlegenen Kuomintang vernichtend geschlagen werden konnte, floh sie aus ihrer Hochburg, dem sogenannten Jianxi-Sowjet von Oktober 1934 bis Oktober 1935 zu Fuß circa 10 000 Kilometer in Richtung Norden. Nur zehn Prozent der Soldaten überlebten diesen Rückzug, und doch wurde die Kuomintang 1949 von den Kommunisten endgültig besiegt – letztlich ein Erfolgsprojekt, was man von den diversen langen Märschen durch die Institutionen, die irgendwelche Linke danach gestartet haben, nicht sagen kann.
Ein Erfolgsprojekt war auch der »Lange Fahrradmarsch«[1] der beiden bundesdeutschen Autoren Volker Häring und Christian Schmidt, den sie in zwei Etappen von 2023 bis 2024 (mit Winterpause) auf E-Bikes durchzogen. Das hat vorher noch kein Ausländer vollbracht. Und das obwohl Schmidt sich als »komplett untrainierte Sofakartoffel jenseits des Verfallsdatums«, ja, als »einen Antisportler aus Turnvater Jahns Fahndungsbuch« und als »den Joe Biden der Radfahrer-Community« einschätzte. Nächstes Jahr wird er 70, doch eigentlich ist dies das beste Mao-Alter, der ja angeblich mit 73 noch den Jangtse-Fluss durchschwommen haben soll.
Häring ist Jahrgang 1969, hat aber schon auf von ihm veranstalteten Fahrradtouren durch China 50 000 Kilometer weggeradelt, spricht fließend Chinesisch, anders als Schmidt, obwohl der 15 Jahre lang in Peking lebte. Deshalb war Häring auch der Planer und Organisator dieser »wahnsinnigen Tour« (Schmidt), über die die beiden nun einen ziemlich unterhaltsamen Reisebericht auf 368 Seiten veröffentlicht haben. Sie zeigen, wie China heute tickt, zwischen Kommunismuskult und Erfolgskapitalismus, dabei ist es immer noch sehr ländlich geprägt; und es ist gar nicht so erstaunlich, dass Schmidt und Häring Leute treffen, die ihnen sagen, sie wären die ersten Ausländer, die ihnen jemals begegnet seien.
Sie suchen dabei weniger nach den Spuren von Mao[2], sondern nach denen des deutschen Berufsrevolutionärs Otto Braun, der hierzulande Eingeweihten bestenfalls als Ex-Mann von Olga Benario bekannt ist. Mit seiner abenteuerlichen Biografie wirkt er wie einem Hollywoodfilm entsprungen, in Wahrheit wurde er aber von der Komintern als Militärberater nach China geschickt. Er war es, der den »Langen Marsch« initiierte und anfangs als »heimliche Nummer 1« leitete, wurde aber in dessen Verlauf von Mao verdrängt.
Auch Häring und Schmidt schreiben offenherzig über ihre Streitigkeiten. Für Schmidt geht Häring beim kleinsten Anlass »in die Luft wie das HB-Männchen in der antiken Werbung«, allerdings ist seine beste Eigenschaft die, dass er »auch genauso schnell wieder runterkommt«. Für Häring ist Schmidt »nicht der empathischste Mensch«, der mit »Stresssituationen nicht immer gut umgeht.«
Auf der Tour zuckelt Schmidt dem wesentlich sportlicheren Häring meist außer Sichtweite hinterher, doch der leidet dann auf der ersten Etappe an einem Dauerhusten, Rücken- und Zahnschmerzen. Der Pessimist Schmidt unterhält sich stets mit seinem inneren »Mr. Worstcase«, kann dann aber auch mal den skeptischer gewordenen Häring optimistisch motivieren. Manchmal schickt er in den »Kommunistenhimmel« auch ein kleines Stoßgebet: »Otto hilf – ich kann nicht mehr!«
Die Kapitel ihres Buches schreiben sie abwechselnd. Darüber, wie sie auf gefährlichen, schneebedeckten Passhöhen doch nicht abstürzten und in sumpfigen Gebieten nicht versanken, wie sie die alkoholgeschwängerten Abgase der Schnapsfabriken in Maotai betüdelten und wie sie durch Landschaften fuhren, »wie aus chinesischen Tuschebildern geschnitten: Wasserfälle, die von den Bergen stürzen und ausgedehnte Wälder, wie ich sie in China bisher noch nicht gesehen habe« (Häring).
Ihnen begegnen die nationalen Minderheiten der Yao, Zhoung, Miao, Dong und Bai und eine immer wieder misstrauische Polizei, die Häring meist beruhigen kann: »Auf Chinesisch totquatschen, das ist immer meine Strategie bei unangenehmen Begegnungen mit der Staatsgewalt.« Die Hauptprobleme sind aber die Speichen der Fahrräder, teilweise schlechte Straßen, auf denen sie von ignoranten Autofahrern in Lebensgefahr gebracht werden, und die immer wiederkehrende Grundfrage der revolutionären Wachsamkeit: Hält der Akku des E-Bikes?
Wie hatte Mao die Sache zusammengefasst? »Die Rote Armee verachtet, weit marschierend, das Leid, tausend Berge, zehntausend Flüsse – für sie nur eine Kleinigkeit.« Für Schmidt und Häring gilt das nicht ganz, aber auch sie sind sich zum Schluss einig: »Es ist einfach so passiert.«
Volker Häring/Christian Y. Schmidt: Der lange Fahrrad-Marsch. 7000 Kilometer durch das Reich der Mitte. Ullstein, 368 S., br., 19,99 €.
Buchvorstellung: 12.11., 18.30 Uhr, Fahimi-Bar, Skalitzer Str. 133, Berlin.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195360.china-maos-spuren-folgen-n-auf-dem-e-bike.html