Martin, ein guter Freund von mir, feierte mit seiner Frau Chang den Umzug von Hongkong in die chinesische Hauptstadt. Es war eine dieser milden Oktobernächte, wie sie für Peking typisch sind. Das gute Yanjing-Bier floss in Strömen, hin und wieder kursierte ein Joint, und während im Wohnzimmer deutsche Sinologinnen, chinesische Maler und schottische IT-Experten tanzten, saßen Volker und ich im Hof, wo gerade Lammspieße nach uigurischer Art – sogenannte yangrou chuan’r – gegrillt wurden.
Volker war von einer langen Fahrradtour, die er als Reiseleiter geführt hatte, aus dem Süden Chinas zurückgekehrt und schon wieder auf dem Sprung nach Berlin. Von dort war ich am Tag zuvor gekommen. Dementsprechend war ich vom Jetlag ein bisschen angezählt, das Bier und etwas Kifferei taten schnell ihr Übriges. Das war der Moment, in dem mir Volker den Vorschlag machte.
Er kam allerdings nicht sofort zur Sache. Zunächst lobte er mich und meine Bücher über China in den höchsten Tönen. Dunkel erinnere ich mich, dass er etwas von »humorvollen Annäherungen an das Reich der Mitte« erzählte, »frei von der Leber weg« und »klug arrangiert«.
Schließlich redete er nicht länger um den heißen Brei herum. »Du bist doch auch ein ganz guter Radfahrer, oder?« »Na ja, geht so«, sagte ich. »Ich fahre notgedrungen viel im Alltag, weil ich kein Auto habe. Aber kein Vergleich zu einem durchtrainierten Weltumrunder wie dir. Du lebst doch praktisch auf dem Sattel.« Volker reagierte, als hätte er meine Relativierung nicht gehört. »Was hältst du davon, mit mir die Route des Langen Marsches entlangzufahren? Auf dem Fahrrad? Von Anfang bis zum Ende?« Damit war die Katze aus dem Sack. Ich glaubte allerdings zunächst, ich hätte nicht richtig gehört.
»Du meinst DEN Langen Marsch, den die chinesische Rote Armee in den Dreißigerjahren marschiert ist?«
»Welchen sonst?«
»Bist du wahnsinnig? Wenn ich mich richtig entsinne, waren das damals 25 000 Li. Das sind …« Volker nickte: »… rund 12 500 Kilometer. Mao hat das zumindest am Ende des Marschs behauptet, aber das muss nichts heißen.«
»Weil das noch nie jemand gemacht hat! Jedenfalls kein Nicht-Chinese. Wir würden Fahrradgeschichte schreiben und kämen wahrscheinlich ins Guinnessbuch der Rekorde.«
»Du vielleicht. Ich käme eher ins Leichenschauhaus. Nur zu deiner Info: Ich habe noch nie im Leben eine Fahrradtour gemacht. Und ich bin zwölf Jahre älter als du. In zwei Monaten werde ich sechzig. Außerdem ist nach einem komplizierten Oberschenkelbruch mein linkes Bein zweieinhalb Zentimeter kürzer. Ich leide unter Bluthochdruck und Schlafapnoen, also Atemaussetzern im Schlaf ... Ich müsste völlig irre sein, wenn ich mich auf dein, zugegeben schmeichelhaftes, Angebot einließe.«
Ich weiß nicht mehr genau, wie es an diesem Abend weiterging. Auf jeden Fall versuchte Volker weiterhin, mich von seinem Irrsinnsplan zu überzeugen, während ich ihm standhaft Paroli bot. Recht präzise erinnere ich mich hingegen, wie ein paar Lammspieße und Biere später das Gespräch auf Otto Braun kam.
»Wenn es überhaupt einen Grund für mich gäbe«, warf ich ein, »diese Wahnsinnstortur auf mich zu nehmen, dann wäre das Otto Braun. Rein hypothetisch natürlich.«
»Du meinst diesen deutschen Militärberater, der auf dem Langen Marsch dabei war? Auf Chinesisch heißt er übrigens Li De, also Li, der Deutsche, oder auch der tugendhafte Li.«
»Genau den meine ich!«
»Den kenne ich nur aus chinesischen Historienfilmen: Ein stalinistischer Apparatschik, der auf dem Langen Marsch eine kleine Nebenrolle spielte und selbst dabei alles falsch gemacht hat. Der totale Loser.«
Doch mit dieser flapsigen Bemerkung war Volker an den Falschen geraten! Ich war auf einer meiner vielen Chinareisen einst auf die Spuren Brauns gestoßen und hatte mich anschließend intensiver mit dem geheimnisumwitterten deutschen Kommunisten beschäftigt. Das war zwar schon eine Weile her, doch ein paar Dinge waren mir noch gewärtig.
»Wie bitte? Loser? Also erst mal ist Otto Braun der einzige Ausländer, der den kompletten Langen Marsch mitmarschiert ist, die ganzen 12 500 Kilometer …«
»… wahrscheinlich eher neuntausend.«
»Und zweitens – und jetzt halt dich ruhig an deinem wackeligen Gartenstuhl fest – ist eigentlich Otto Braun derjenige, der den Langen Marsch befohlen hat.«
Das hatte offenbar gesessen. Volker brauchte eine Weile, um eine Antwort zu finden.
»Das war doch Mao! In den Filmen, die ich gesehen habe, war er immer der strahlende Anführer auf dem Langen Marsch, der unerschrocken voranlief.«
»Nein, war er eben nicht, selbst wenn das die chinesische Geschichtsschreibung ungern zugibt und es auch im Ausland praktisch keiner weiß. Als der Lange Marsch startete, war Mao nicht nur entmachtet. Man hat sogar überlegt, ihn in dem Guerillagebiet, von wo die Kommunisten zum Langen Marsch aufbrachen, zurückzulassen.«
Auch das schien für Volker völlig neu zu sein, und so nutzte ich sein Schweigen, um noch etwas weiter auszuholen.
»Historiker aller Länder sind sich mehr oder weniger einig, dass es ohne den Langen Marsch wahrscheinlich keine Volksrepublik China gegeben hätte. Denn wären die Kommunisten damals nicht zu diesem Marsch aufgebrochen – der eigentlich nichts anderes war als eine etwas besser geplante Flucht –, dann wären sie wahrscheinlich von ihren Bürgerkriegsgegnern, den Nationalisten unter Chiang Kai-shek, vernichtet worden. Richtig?«
»Ja, das kann man wohl sagen. Alle, die später wichtige Funktionen in der Volksrepublik einnehmen werden – Mao, Zhou Enlai, Zhu De, Deng Xiaoping, und wie sie alle heißen –, wären sicher einen Kopf kürzer gemacht worden.«
»So. Und genau das hat Otto Braun verhindert. Sie alle überlebten, konnten den Bürgerkrieg gewinnen und schließlich 1949 die Volksrepublik ausrufen. Ergo sähe ohne den Deutschen Otto Braun die Welt heute deutlich anders aus. Das China, das wir heute kennen, gäbe es einfach nicht.«
Danach ging die Diskussion noch endlos weiter, doch darüber senkt sich in meinem Kopf ein gnädiger Nebelschleier – bis ein paar Wochen später mein Handy klingelte. Am anderen Ende war Volker in Berlin, der mir besonders gut gelaunt zu sein schien. »Hey, ich freu mich schon total darauf, mit dir den Langen Marsch zu fahren! Ich habe auch schon mit den ersten Planungen angefangen.« Ich fiel aus allen Wolken.
»Sorry, Volker. Wovon redest du?«
»Wie? Du erinnerst dich nicht mehr? Am Ende von Martins Party warst du nicht mehr zu stoppen. Otto Braun hier, Otto Braun da. Ohne Otto könnte ich mein Huawai-Telefon vergessen. Ohne ihn gäbe es keine Hochgeschwindigkeitszüge in China, keine glitzernden Wolkenkratzer in Shanghai, und Lange-Marsch-Weltraumraketen schon gar nicht.«
»Okay, und dann?« Ich ahnte Übles.
»Als ich es wagte, an deiner These leise Zweifel zu äußern, hast du erst recht aufgedreht. Schließlich hast du laut gebrüllt: ›Wenn du mir nicht glauben willst, dann komm’ ich eben mit. Dann werde ich dir schon zeigen, wie wichtig Otto Braun für den Langen Marsch war.‹«
»Komm, das hast du dir doch ausgedacht …«
»Null. Du hast eingeschlagen, als ich vorschlug, das jetzt fix zu machen. Und wenn du mir nicht glaubst: Martin hat ein Video von unserem Handschlag gemacht. Soll ich’s dir schicken?«
Nein, das sollte Volker nicht, denn es war alles schon peinlich genug. So unrühmlich wurde also der Lange Fahrradmarsch zwischen Volker und mir verabredet. Es war nicht der pure Zufall, sondern auch ziemlich viel Alkohol und ein bisschen Cannabis im Spiel. Ich kam mir zwar ein bisschen geshanghait vor, wie es ein alter Seemann formulieren würde – hihi, geshanghait in Peking, dachte ich, wie absurd –, aber letztlich war ich selbst schuld. Jedenfalls kam es mir nicht in den Sinn, unsere Verabredung zu brechen. Wenn ich erst einmal etwas versprochen habe, halte ich es; mag passieren, was da wolle, und egal, unter welchen Umständen das Versprechen zustande gekommen ist.
Auszug aus der Neuerscheinung »Der Lange Fahrradmarsch« von Volker Häring und Christian Y. Schmidt. Ullstein, 368 S., br., 19,99 €.