nd-aktuell.de / 11.11.2025 / Politik

Wie Gefängnisse gegen Suizide kämpfen

Viele Häftlinge leiden unter Ängsten und Hoffnungslosigkeit. 96 Menschen nahmen sich 2023 in ihren Zellen das Leben – ein Höchststand

Andreas Boueke
Psychische Erkrankungen und existenzielle Krisen gehören in Haft oft zusammen – doch ein Hilfesystem soll verhindern, dass Menschen sich das Leben nehmen.
Psychische Erkrankungen und existenzielle Krisen gehören in Haft oft zusammen – doch ein Hilfesystem soll verhindern, dass Menschen sich das Leben nehmen.

Hinter Gefängnismauern[1] ist die Gefahr, sich das Leben zu nehmen, rund zehnmal so groß wie draußen. »Hoffnungslosigkeit ist oft ein Hauptgrund«, sagt der Gefängnisseelsorger Lothar Dzialdowski. »Im Gefängnis glauben viele Menschen, dass sie keine Lebensperspektive mehr haben.« Dzialdowski arbeitet in der JVA Brackwede, einem Gefängnis mit 666 Haftplätzen. Der großgewachsene Theologe weiß, dass nicht wenige der dort Inhaftierten mit Suizidgedanken spielen. Doch diejenigen, denen es wirklich ernst ist, sprechen meist nicht über ihr Vorhaben. »Ich bin jetzt seit zweieinhalb Jahren hier. In dieser Zeit hat es drei vollendete Suizide gegeben und mehrere Suizidversuche. Niemand in einer JVA möchte, dass sich jemand das Leben nimmt. Das ergibt sich auch aus der Garantenstellung, die im Gesetz festgelegt ist.«

Auf allen Ebenen des Strafvollzugs sind die Verantwortlichen verpflichtet, für die körperliche und psychische Gesundheit der Häftlinge zu sorgen. Der Staat schafft den rechtlichen Rahmen, die Anstaltsleitungen formulieren konkrete Vorgaben, und die Mitarbeitenden setzen diese um – mit dem Ziel, Suizide zu verhindern[2]. Das war nicht immer selbstverständlich: Noch vor zehn Jahren war das Thema »Suizidprävention« kein fester Bestandteil der Ausbildung junger Justizvollzugsbeamter. Damit sich das ändert, wird heute schon während der Ausbildung darauf geachtet, angehende Vollzugsbeamte für Krisen- und Suizidsituationen zu sensibilisieren.

Ausbildung für den Vollzug

In der Mensa der Justizvollzugsschule Bockum-Hövel sitzt Denise Peters über ihrer heißen Suppe. Sie arbeitet in der JVA Münster, studiert aber für das erste Semester an der Ausbildungsstätte in Hamm. Doch für das erste Semester des theoretischen Teils ihrer Ausbildung wurde sie an die Justizvollzugsschule in Hamm abgeordnet. »Suizid ist ein Thema[3], das leider nicht wegzudenken ist. Deswegen freue ich mich, dass wir dafür sensibilisiert werden.« Die meisten Menschen, die in Haft versuchen, sich selbst zu töten, leiden an psychischen Erkrankungen. »Oft sogar an mehreren Krankheiten gleichzeitig«, erklärt der erfahrene Psychiater Carl Ernst von Schönfeld, der sich seit Langem dafür einsetzt, dass der psychischen Gesundheit der Gefangenen konsequent Beachtung geschenkt wird. »Die Menschen in Haft haben zu über 88 Prozent mindestens eine psychiatrische Diagnose. Das heißt: In der Regel haben wir es mit Personen zu tun, die sehr schwer beeinträchtigt sind.«

Wenn mehrere Erkrankungen wie Depressionen, Süchte oder psychotische Leiden zusammenkommen, steigt das Suizidrisiko deutlich. Carl Ernst von Schönfeld bietet seit 34 Jahren wöchentliche psychotherapeutische Sprechstunden für Häftlinge an. Zudem wird er häufig als Gutachter hinzugezogen, um die Schuldfähigkeit eines Angeklagten einzuschätzen. Er geht davon aus, dass etwa jeder zehnte psychisch erkrankte Häftling eines Tages durch Suizid ums Leben kommt. »Das ist natürlich eine ganz andere Hausnummer als in der allgemeinen Bevölkerung. In Justizvollzugsanstalten treten die meisten seelischen Erkrankungen um ein Vielfaches häufiger auf – und damit auch Suizidalität«, sagt er.

Der engagierte Arzt betont jedoch, dass die Mitarbeitenden in den Gefängnissen inzwischen deutlich besser auf diese anspruchsvolle Situation vorbereitet sind: »Ich kenne keinen anderen Bereich der Psychiatrie, in dem derzeit so viel positive Aufbruchstimmung herrscht wie im Justizvollzug – und zwar seit etwa sechs Jahren. Zuvor war das jahrzehntelang ganz anders.«

Im Jahr 2019 untersuchte die nach ihrem Vorsitzenden Heiko Manteuffel benannte Manteuffel-Kommission die psychiatrische Versorgung im Justizvollzug. Ihr Bericht enthielt drastische Befunde. »Da wurde von menschenunwürdigen Zuständen gesprochen«, erinnert sich Dr. von Schönfeld. »Seither hat sich viel getan – insbesondere durch die Entwicklung des sogenannten PIB-Programms, das für psychiatrisch intensivierte Behandlung steht.«

Die Auszubildenden in Hamm sind mit der Abkürzung PIB vertraut. Im Unterricht begegnen sie dem Konzept immer wieder – auch weil Fächer wie Psychologie und Kommunikationsmanagement heute zu den Schwerpunkten der Ausbildung von Justizvollzugsbeamten gehören.

Der Dozent Patrick Linnemann will in seinem Unterricht ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sich viele Inhaftierte in einer extrem belastenden Situation befinden. Ziel ist es, nicht nur die Hintergründe zu verstehen, sondern auch im Ernstfall angemessen handeln zu können.

Belastung für Bedienstete

Dem stimmt Carl Ernst von Schönfeld zu. Die Beschäftigung mit dem Thema Suizid in der Schule sei eine Sache, die Konfrontation mit der Realität im Hafthaus eine völlig andere. »Zum Beispiel gab es mal eine Studie, die festgestellt hat, dass der Krankenstand unter den Bediensteten enorm hoch ist. Daraufhin wurde eine Befragung gemacht: Woran liegt das? Eine der Hauptursachen war der Umgang mit verhaltensauffälligen Gefangenen. Es ist erschütternd, wenn man erkennt, wie viele schwer gestörte Menschen in Haft sind.«

Wenn sich jemand zurückzieht und soziale Kontakte meidet, kann das ein Warnsignal sein, erklärt der Psychiater: »Zunächst denkt man vielleicht: ›Das ist ja praktisch. Der klingelt nie.‹ So ein Rückzug stört den Betriebsablauf nicht. Wenn man aber weiß, dass ein solches Verhalten in jedem Fall einen genaueren Blick wert ist, sollte man sich fragen, was die Person dazu bewegt, selbst die wenigen Freiheiten aufzugeben, die ihr im Gefängnis noch bleiben.«

Genau an diesem Punkt setzt die Ausbildung an. Patrick Linnemann möchte seine Schülerinnen und Schüler für solche Anzeichen sensibilisieren. Sie sollen möglichst frühzeitig wahrnehmen, wenn jemand seelische Not leidet und dringend Unterstützung braucht. »Es gilt der Grundsatz: Man spricht immer über alles, was einem auffällt.« Das soll die Aufmerksamkeit aller Bediensteten schärfen – damit sie womöglich einen Suizidversuch verhindern können.

Aber Sensibilisierung allein genügt nicht, betont der Psychiater von Schönfeld. Justizvollzugsbeamte müssen auch über fundierte psychologische Fachkenntnisse verfügen, um angemessen reagieren zu können: »Nehmen wir eine junge Bedienstete, die mit Herz und Verstand sagt: ›Ich will Menschen helfen, die im Leben auf die schiefe Bahn geraten sind.‹ Eines Tages lernt sie eine Gefangene kennen, die ihr immer wieder sagt: ›Das machen Sie toll. So gut hat mich noch nie jemand verstanden.‹ Nachdem sie viel Lob verteilt hat, fordert die Gefangene plötzlich: ›Jetzt müssen Sie den Umschluss bei mir wenigstens zehn Minuten später machen als bei den anderen.‹ Wenn die Bedienstete antwortet: ›Nee, mach ich nicht‹, reagiert die Gefangene mit einer Drohung: ›Dann weiß ich nicht, ob ich morgen noch lebe. Und dann sind Sie schuld.‹«

Der Auszubildende Tobias Holstein weiß, dass solche belastenden Situationen Teil des Alltags vieler Justizvollzugsbeamter sind. Trotzdem ist er froh, in diesem Bereich zu arbeiten. »Gefängnis und Vollzug ist einfach viel, viel mehr als das, was viele Leute draußen denken. Hinter den Mauern werden nicht nur einfach Türen verschlossen und Gefangene sich selbst überlassen. Auf der Abteilung sind wir die ersten Ansprechpartner und koordinieren die Hilfe der weiteren Fachdienste.«

Solche Motivation für die Vollzugsarbeit inspiriert auch den Gefängnisseelsorger Lothar Dzialdowski. Er freut sich, wenn junge Menschen Interesse an der Suizidprävention zeigen. Traditionell sieht die katholische Kirche einen Suizid als Sünde. Auch außerhalb der Kirche wird noch immer häufig von »Selbstmord« gesprochen – aber Mord ist ein Verbrechen. Moderne theologische Ansätze betonen hingegen, dass Menschen mit Suizidgedanken nicht verurteilt, sondern mit Verständnis und Mitgefühl begleitet werden sollen.

Im Alltag der Justizvollzugsanstalt hört Lothar Dzialdowski immer wieder Sätze wie: »Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich nehm mir das Leben.« Dann scheut er sich nicht, auch ganz praktische Dinge anzusprechen: »Ich sage schon mal: ›Na ja, wenn Sie meinen, dass das hier der richtige Ort zum Sterben ist ... Also, ich kann mir schönere Orte vorstellen, als sich ans Fensterkreuz zu hängen.‹« Der Seelsorger hat gelernt, dass viele Menschen positiv auf konkrete persönliche Ansprache reagieren. Doch nicht immer lassen sich Krisen rechtzeitig erkennen oder verhindern.

Tote Körper

Einige Gruppen junger Justizvollzugsbeamter besuchen im Rahmen ihrer Ausbildung ein Bestattungsunternehmen. Für solche Exkursionen steht der Bestatter Christoph Kortstiege gerne zur Verfügung: »Ich fand die Idee gut, weil der Suizid zum Leben in einer JVA dazugehört. Deshalb war ich sofort bereit, den Auszubildenden einen Einblick hinter die Kulissen zu ermöglichen.«

In dem alten Gewölbekeller des Firmengebäudes befindet sich eine Sargausstellung. Während Christoph Kortstiege eines der Modelle öffnet, versucht er, sich in die Lage der Justizvollzugsbeamten hineinzuversetzen. »Manche fragen sich vielleicht mehrfach am Tag, was sie wohl hinter einer verschlossenen Tür erwartet. Wenn dann tatsächlich einmal ein scheinbar lebloser Körper auf dem Boden liegt, gibt es typische Zeichen, die erkennen lassen, dass der Mensch tot ist. Ein Totenfleck zum Beispiel oder eine Totenstarre weisen darauf hin: Das Herz hat aufgehört zu schlagen. Der Mensch ist tot.«

Als Bestatter möchte Christoph Kortstiege dazu beitragen, dass Justizvollzugsbeamte gut auf solche herausfordernden Situationen vorbereitet sind. Nach einem Suizid liegen die Toten selten friedlich da – viele haben sich erhängt, stranguliert oder die Pulsadern aufgeschnitten. Christoph Kortstiege weiß: »Diese Eindrücke prägen sich tief ins Gedächtnis ein und hinterlassen Spuren.«

Der Seelsorger Lothar Dzialdowski kann das bestätigen. Tage, an denen in der JVA ein Todesfall entdeckt wird, sind für ihn besonders belastend. »So was ist für alle Mitarbeitenden der JVA schwer. Und ich in meiner Rolle spüre die Erwartung, einen adäquaten Umgang mit der Situation zu finden.« So kommt es durchaus vor, dass der erfahrene Theologe ungehalten auf einen Suizid reagiert: »Brauch’ ich nicht! Will ich nicht haben! Manchmal entsteht auch Wut auf denjenigen, der sich getötet hat. Niemand möchte, dass sich hier jemand umbringt.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195219.aktionstage-gefaengnis-zwischen-utopie-und-realitaet-gefangen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195359.gesundheit-suizidpraevention-in-berlin-wenn-reden-leben-rettet.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193355.nelson-suizid-in-jva-ottweiler-beamte-trotz-vorwuerfen-weiter-im-dienst.html