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Anne Brorhilker: Cum-Ex und der Amtsschimmel
Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker schildert Hürden beim Vorgehen der Justiz gegen Wirtschaftskriminalität
Cum-Ex gilt in Deutschland als der größte Steuerskandal unserer Zeit. Banker, Anwälte und Investoren haben in der Zeit von 2001 bis 2016 den deutschen Staat mit Steuertricks und Aktiengeschäften um Milliardensummen betrogen. Anne Brorhilker, die durch ihre Ermittlungen internationale Bekanntheit erlangte, kennt das komplexe Verhältnis zwischen Wirtschaftskriminalität und Justiz. In ihrem am Mittwoch erschienenen Buch öffnet sie einige Türen, die sonst verschlossen bleiben.
Vieles, was die frühere Oberstaatsanwältin schreibt, ist bekannt. So die unrühmliche Rolle, die Olaf Scholz (SPD) als Hamburger Bürgermeister während der Aufklärung einer dubiosen Steuererstattung zugunsten der alteingesessenen Warburg-Bank spielte. Der eigentliche politische Hintergrund bleibt in »Cum/Ex, Milliarden und Moral. Warum sich der Kampf gegen Wirtschaftskriminalität lohnt« hingegen blass. Etwa, warum gewiefte Bundesfinanzminister wie Frank-Walter Steinmeier (SPD) oder Wolfgang Schäuble (CDU) lange Zeit daran scheiterten, das Steuerschlupfloch endgültig zu schließen.
Richtig spannend wird es allerdings, wenn die Juristin zusammen mit ihrer Ko-Autorin, der Kuratorin Traudl Bünger (Lit. Cologne), den deutschen Amtsschimmel wiehern lässt. Als junge Staatsanwältin in Köln stößt Brorhilker auf ein Problem, das keiner ihrer Kollegen lösen kann. Sie ruft daher bei der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf an, die einen ähnlichen Fall bereits bearbeitet hatte. Was ihr dann alsbald hausintern einen heftigen Rüffel des Vorgesetzten einbrachte: Sie könne nicht einfach am offiziellen Dienstweg vorbei irgendwo anrufen.
»Es ist immer schwierig, wenn die unteren Etagen kompetenter sind als die oberen.«
Anne Brorhilker
Schwerer wiegt ein anderer Vorgang. Die Staatsanwaltschaft hat einen hinreichenden Anfangsverdacht. Mit den zuständigen Fahndern werden in ellenlangen Sitzungen Tatsachen gewichtet, Strategie und Taktik festgelegt. Im nächsten Schritt schreiben die Steuerfahnder einen »Anregungsvermerk«, der die wichtigen Punkte erfasst. »Wir sehen diese oder jene Auffälligkeit«, kann darin stehen. »Wir schließen daraus, dass eine Straftat begangen worden ist und regen folgende Maßnahme an …« Dieser Vermerk ist die Grundlage für einen Antrag der Staatsanwaltschaft beim Gericht, beispielsweise eine Hausdurchsuchung zu genehmigen. »Und dann, es ist mir wirklich Dutzende Mal passiert, erhalte ich drei Wochen später den Vermerk zurück – und zwar in einer völlig anderen Version als besprochen«, erinnert sich Brorhilker. Manchmal sei sogar der offensichtliche Anfangsverdacht abhandengekommen.
Schuld seien nicht die praxiserprobten Fahnder aus dem »gehobenen Dienst«, sondern ihr Vorgesetzter im »höheren Dienst«. Der Sachgebietsleiter muss jeden Vermerk unterschreiben und schreibt diesen bisweilen schlicht um. Das Fatale sei, dass Sachgebietsleiter in ihrem akademischen Elfenbeinturm nicht über entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse verfügten. »Entscheidungen in der Verwaltung, auch der Finanzverwaltung, werden streng entlang dieser Hierarchie getroffen – und genau deshalb auch Vermerke recht willkürlich umformuliert.« Das Ungleichgewicht an Kompetenzen begünstige »egomanes Verhalten«, so Brorhilkers These. »Es ist immer schwierig, wenn die unteren Etagen kompetenter sind als die oberen.«
Und ganz oben? Brorhilker kritisiert, dass sich in Deutschland ein Finanzminister nicht erklären muss, wenn Steuerhinterziehung den Staat Milliarden Euro koste. »Geld, das für Infrastruktur, Bildung Soziales fehlt.« Im Justizministerium sei es ähnlich: Im März 2025 lagen 930 000 Fälle unbearbeitet auf den Schreibtischen von Staatsanwält*innen. »Aber«, fragt Brorhilker rhetorisch, »gab es unangenehme Fragen an den Justizminister?« Und da es kein öffentliches und mediales Interesse über die rituelle Skandalisierung hinaus gebe, fehle auch der politische Druck auf Minister, ihre »dysfunktionalen Verwaltungen« in Schuss zu halten, ausreichend Personal und technische Ausstattung bereitzustellen.
Mittlerweile haben Gerichtsprozesse Licht in das Dunkel der Cum-Ex-Geschäfte gebracht. Der deutsche Staat hat indes nur Teile der hinterzogenen Steuern erhalten. Das liegt laut Brorhilker auch daran, dass die Behörden in anderen europäischen Ländern zumindest teilweise besser unterstützt wurden. In Frankreich etwa griff das Parlament ein, in Dänemark machte die Regierung die Ermittlungen zur Chefsache.
Über zwei Jahrzehnte lang war Brorhilker Staatsanwältin, zuletzt Hauptabteilungsleiterin der mit Cum-Ex-Fällen befassten Abteilungen der Staatsanwaltschaft Köln. Sie legte im April 2024 ihr Amt nieder und wechselte zur Initiative Finanzwende, wo sie als Vorständin den Bereich Finanzkriminalität leitet. Echte Veränderung gelingen nur mit einer starken, aufgeklärten Zivilgesellschaft, davon ist Anne Brorhilker überzeugt. Schließlich, diesen Schluss drängt ihr Buch auf, dürfte der nächste große Steuerhinterziehungsskandal nicht lange auf sich warten lassen.
Anne Brorhilker, Traudl Bünger: Cum/Ex, Milliarden und Moral. Warum sich der Kampf gegen Wirtschaftskriminalität lohnt. Heyne Verlag, München, Hardcover, 272 Seiten, 24 Euro. Pro verkauftem Buch geht ein Euro an die Bürgerbewegung Finanzwende. Anne Brorhilker selbst erhält keine Einnahmen.
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