Ecuador hat die Welt inspiriert. Es war das erste Land, das die Rechte der Natur in seiner Verfassung verankerte – eine wegweisende Antwort auf den ökologischen Kollaps. Auch richtete es seine Magna Charta am Konzept des Buen Vivir aus – einer indigen inspirierten Vorstellung vom guten Leben, die nicht auf grenzenlosem Wachstum und Aneignung, sondern im Gegenteil auf Ausgleich, Gegenseitigkeit und der Qualität von Beziehungen basiert. Das kleine südamerikanische Land hatte 2007 sogar den Mut, eine offizielle Schuldenprüfung[1] durchzuführen und einen Teil seiner Auslandsschulden für illegitim zu erklären. Erst vor zwei Jahren, im August 2023, stimmten 60 Prozent der Bevölkerung dafür, im Herzen des ecuadorianischen Amazonasgebiets, dem Yasuní-Nationalpark, das Erdöl im Boden zu belassen – trotz der Drohung, dass dies weitere Kürzungen der Sozialausgaben nach sich ziehen würde.
Doch all das ändert sich dieser Tage – rasant und radikal. Der derzeitige Präsident Daniel Noboa[2], erstmals 2023 gewählt[3], verordnet der kreativen, kulturell vielfältigen und ökologisch sensiblen ecuadorianischen Gesellschaft eine vielschichtige Schocktherapie. In seiner zweiten Amtszeit ab Mai 2025 gelang es dem Sprössling einer der reichsten Familien des Landes, die Eliten hinter sich zu vereinen. Ihr Ziel: genau jene Verfassung von 2008 loszuwerden, die Ecuador in der ganzen Welt bekannt gemacht hat – und die mit ihrem Fokus auf Rechte, Interkulturalität und Souveränität auch die aggressivsten Formen der Kapitalakkumulation behindert hat. Am 16. November sollen die Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer nun per von oben verordnetem Referendum über die Einberufung einer neuen verfassungsgebenden Versammlung abstimmen. Doch das ist nur ein herausstechender Vorgang in einer Strategie, die Demokratie faktisch abschafft, den Staat im Sinne der weißen und wohlhabenden Oberschicht umbaut, Gewalt verschärft und einen neuen rechtsextremen gesellschaftlichen Konsens etabliert – geprägt von Klassenprivilegien, Patriarchat und jahrhundertealtem Rassismus.
Daniel Noboa, der jüngste Präsident in der Geschichte Ecuadors, der gerne mit seiner zweiten Frau, der Influencerin Lavinia Valbonesi, auf Instagram posiert, trat 2023 zunächst mit einer Botschaft an, die ihn weder als politisch links noch rechts positionierte. Zwei Jahre später scheint er entschlossen, alle Errungenschaften, die jahrzehntelange soziale und ökologische Kämpfe ins ecuadorianische Staatsgefüge und in die politische Kultur eingeschrieben haben, systematisch zurückzunehmen.
Noboa hat die Tatsache, dass Ecuador in kürzester Zeit von einem der friedlichsten zu einem der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas wurde, in eine neue Herrschaftsstrategie umgewandelt. Veränderungen in den regionalen Drogenrouten während der Pandemie und die Tatsache, dass der US-Dollar seit 2000 in Ecuador offizielle Währung ist, machten das Land zu einem Brennpunkt von Territorialkonflikten im Rahmen der kriminellen Ökonomien, die in ganz Lateinamerika im Aufwind sind. Die Mordrate stieg von 5,8 pro 100 000 Einwohner im Jahr 2017 auf 43 pro 100 000 Einwohner im Jahr 2023. Diese Morde sind stark geprägt von Rassismus und Klassendiskriminierung: Junge, mittellose, nicht-weiße Männer sind bei Weitem die häufigsten Opfer.
Im Januar 2024 rief Noboa den »inneren bewaffneten Konflikt« gegen 22 »kriminelle« Gruppen aus. Sie wurden damit offiziell zu Kombattanten und kurz darauf auch als Terroristen eingestuft – ein Freibrief, um das Militär beliebig im Inland einzusetzen und nahezu dauerhaft den Ausnahmezustand zu verhängen, was einer Aufhebung der Versammlungsfreiheit gleichkommt. Polizei- und Militärangehörigen wurde wiederholt Straflosigkeit garantiert, selbst bei Gewaltexzessen. Doch die todbringende Gewalt wurde damit nicht eingedämmt – im Gegenteil: Die erste Hälfte des Jahres 2025 war bisher die blutigste Periode in der Geschichte des Landes. Eine kleine Kostprobe: Zwischen dem 9. und dem 12. Oktober wurden allein in der Küstenprovinz Manabí 16 Morde gezählt; damit summiert sich dort die Zahl der Morde in diesem Jahr auf 967 Fälle.
Noboa verfolgt eine Strategie, die Ecuador im Sinne der weißen und wohlhabenden Oberschicht umbaut.
Der »innere bewaffnete Konflikt« erwies sich jedoch als ein hocheffizientes Herrschaftsinstrument, mit dem das soziale Gefüge zerrüttet, Umweltaktivist*innen eingeschüchtert und demokratische Rechte ausgehebelt werden können. Seit Juni wurde im Eilverfahren ein ganzes Gesetzespaket vom Parlament verabschiedet, das die Spielregeln im Land tiefgreifend verändert und vom Verfassungsgericht beanstandet wurde. Das Tempo, mit dem es durchs Parlament gebracht wurde, lässt vermuten, dass hinter der Machtübernahme der extremen Rechten in Ecuador ein ähnliches Drehbuch steckt wie beim »Project 2025« in den USA. Die Nähe von Noboas Regierung zur Politik von Donald Trump ist offensichtlich, es gibt mehrere Kooperationsabkommen, gemeinsame Fotos beim Dinner, und Noboa will auch wieder US-Militärstützpunkte auf ecuadorianischem Territorium einrichten, sogar auf den Galapagosinseln. Die Verfassung von 2008, die das vollständig verbietet, ist eines der Hindernisse, die er aus dem Weg räumen will.
Regional steht Noboa Javier Milei in Argentinien und dem salvadorianischen Präsidenten Nayib Bukele nahe, dessen Gefängnispolitik er imitiert. Expert*innen zufolge sind die Gefängnisse in Ecuador zentrale Drehscheiben der kriminellen Ökonomie – und tödliche Orte. Allein im Litoral-Gefängnis an der Küste starben von Januar bis August 395 Gefangene, zwei Drittel davon unter »ungeklärten Umständen«.
Rüstungsausgaben schießen in den Himmel, während gleichzeitig dem öffentlichen Gesundheitswesen dringende Mittel gestrichen werden, sodass Krankenhäuser selbst die Essensausgabe an Patient*innen einstellen mussten. Der »Kampf gegen den Terrorismus« ermöglicht dabei einen offiziellen Diskurs voller Euphemismen. Ein »Gesetz der nationalen Solidarität« fasst Solidarität speziell als Unterstützung von Polizei und Armee, den neuen Held*innen der Nation. Spenden an sie sind von der Steuer absetzbar. Das neue Gesetzespaket beinhaltet auch ein Geheimdienstgesetz, das dem Staat die wahllose Überwachung der Kommunikation von Bürger*innen ohne richterliche Anordnung erlaubt, unter Einsatz umfassender Überwachungssoftware wie Palantir oder Pegasus; ein »Transparenzgesetz«, das soziale und Nichtregierungsorganisationen zu Hauptzielen der »Antikorruptionspolitik« erklärt, sie mit bürokratischen Auflagen überhäuft und die Bürgerrechte auf Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäußerung stark einschränkt. Nirgends gibt es jedoch eine klare Definition dessen, was der Staat eigentlich unter Terrorismus und damit verbundenen Straftaten versteht und was unter deren Unterstützung, doch sind sehr hohe Haftstrafen für die dafür Verurteilten vorgesehen.
Am 16. September fand in Cuenca, der drittgrößten Stadt des Landes, die größte Demonstration statt, die Ecuador seit Jahrzehnten gesehen hat. Über 100 000 Menschen gingen auf die Straße, weil die Regierung das Ergebnis eines Volksbegehrens vom Februar 2021 missachtete. Damals stimmten 80 Prozent der Cuencaner*innen dafür, Bergbau in den Quellgebieten der vier Flüsse, die der Stadt nicht nur ihr Trinkwasser, sondern auch ihr besonderes Flair geben, grundsätzlich zu verbieten. Dennoch hatte die Noboa-Regierung eine Umweltlizenz ausgestellt für den Bergbau in Kimsacocha, einem dieser Gebiete. »Cuenca hat bereits entschieden, Finger weg von Kimsacocha!« war der Slogan, den die bunte Menge dem Präsidenten im September entgegenrief.
Doch anstatt dieser massiven demokratischen Meinungsäußerung nachzugeben, strich Noboa am nächsten Tag die Subventionen für Dieselkraftstoff und zündete damit wohlkalkuliert eine soziale Bombe. Bereits am 18. September riefen der indigene Dachverband Conaie – seit den 1990ern die stärkste soziale Organisation Ecuadors –, Gewerkschaften und andere einen »paro nacional« gegen diese Verteuerung der Lebenshaltungskosten aus, eine Art unbefristeten Streik, der sich vor allem in Straßenblockaden und Demonstrationen ausdrückt. Bereits 2019 und 2022 war es zu derartigen »paros« gekommen, die die jeweiligen Regierungen einen hohen politischen Preis gekostet hatten.
Doch die Noboa-Regierung spielte sofort die Terrorismuskarte gegen die Demonstrierenden[4] aus. Bäuer*innen und indigene Anführer wurden ohne Beweise als Verbündete der Drogenkartelle dargestellt und damit faktisch zu rechtlosen Personen erklärt – obwohl sich die Protestgebiete nicht mit den gewaltgeplagten Hochburgen der kriminellen Ökonomien überschnitten und die Behauptung auch ansonsten absurd ist. Dieses Narrativ wurde jedoch von Hunderten von Bots verbreitet und fand insbesondere bei den weißen urbanen Mittelschichten Anklang, die bereitwillig in die rassistische Hetze einstimmten. Kurz darauf wurde über 60 Aktivist*innen aus indigenen, bäuerlichen und umweltpolitischen Organisationen der Zugang zu ihren Bankkonten gesperrt. Und sie wurden wegen Veruntreuung beziehungsweise Geldwäsche angeklagt – in Fortführung der These ihrer angeblichen Nähe zu kriminellen Ökonomien. Ironischerweise will Noboa zugleich Kasinos wiedereinführen, die unter der progressiven Regierung von Rafael Correa (2007–2017) verboten worden waren, weil sie Geldwäsche begünstigt hatten.
Schwer bewaffnete Militärkonvois, die während des »paro« in besonders rebellische Provinzen wie Imbabura eindrangen, um dort Proteste niederzuschlagen, wurden offiziell als »humanitäre Konvois« bezeichnet, die Lebensmittel und Medikamente brächten. Während des nächtlichen Einsatzes solch eines »humanitären« Militärkonvois wurden in Imbabura der Strom sowie Telefon und Internet abgestellt, sodass die Protestierenden weder miteinander kommunizieren, noch Hilferufe nach außen absetzen konnten. Jorge Cahuasqui von der Ethnie der Kichwa-Karanki war dabei, als ein solcher humanitärer Konvoi in sein Dorf fuhr: »Kaum waren sie da, feuerten sie aus nächster Nähe Tränengasgranaten auf die Körper der Frauen ab, die zwischen den Soldaten und einer Straßenblockade eine Menschenkette gebildet hatten. Eine wurde am Kopf getroffen und fiel ins Koma, eine andere kollabierte aus Atemnot. Es gab bei uns allein an diesem Tag 22 Verletzte, manche davon schwer.« In einem Monat »paro« starben offiziell drei Menschen, zwei von ihnen wurden mit scharfer Munition erschossen.
Um Volksbegehren wie das von Cuenca künftig zu verhindern, verbot der Präsident am 27. Oktober per Dekret schlichtweg alles, was NGOs und Bürgerinitiativen gegen den Bergbau unternehmen können. Aus gutem Grund: Immer wieder gibt es Medienberichte über die Beteiligung der Noboa-Konzerngruppe an Bergbauprojekten im Land.
Noboa baut den Staat schon systematisch um. Seine Strategie beschränkt sich nicht nur darauf, über die Legislative Rechte einzuschränken. Das Frauen- und das Umweltministerium wurden im Juli ins Innen- beziehungsweise ins Bergbauministerium eingegliedert, also faktisch abgeschafft. Familienmitglieder oder ehemalige Mitarbeiter*innen der Familienunternehmen Noboas werden auf strategischen Posten platziert, beispielsweise an der Spitze der Steuerbehörde, um sicherzustellen, dass den Noboa-Unternehmen ihre millionenschweren Steuerschulden erlassen werden – während zugleich 2024 die Mehrwertsteuer für alle Ecuadorianer*innen von zwölf auf 15 Prozent erhöht wurde, auch wieder unter dem Vorwand, der Krieg gegen den Terror müsse finanziert werden.
Auch um die Unabhängigkeit der Justiz steht es nicht gut. Richter*innen, die ihren Beruf nach diesem Grundsatz ausüben, werden von hohen Regierungsvertretern leicht als »Verräter*innen« gebrandmarkt oder gar offen bedroht. Das passierte beispielsweise der Richterin Tanya Loor: Nachdem im Dezember 2024 16 Soldaten dabei gefilmt worden waren, wie sie vier schwarze ecuadorianische Minderjährige auf ihren Pickup-Truck gezerrt hatten, die daraufhin gefoltert und verbrannt worden waren, stufte Loor den Vorfall als gewaltsames Verschwindenlassen von Personen ein und machte den Staat dafür verantwortlich. Dafür wurde sie von den Ministern für Verteidigung und Inneres öffentlich mit Sanktionen und Klagen bedroht.
Auch das Verfassungsgericht, das gegen den fast kontinuierlichen Ausnahmezustand und gegen bestimmte Artikel des im Juni verabschiedeten Gesetzespakets Einspruch hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit erhob, sieht sich laut einem aktuellen Bericht von Amnesty International einer Kampagne der Regierung Noboa ausgesetzt, die die Verfassungsrichter*innen delegitimiert und sie als »Feinde des Volkes« darstellt: »Im August wurden riesige Werbetafeln mit Porträts der Richter*innen aufgestellt, denen vorgeworfen wurde, dem Land ›den Frieden zu stehlen‹. Der Präsident rief zu einer Demonstration gegen das Gericht auf und ordnete den Einsatz der Streitkräfte rund um dessen Gebäude an. Im September ging eine Bombendrohung gegen das Gerichtsgebäude ein, die die Richter*innen und ihre Mitarbeiter*innen schließlich zwang, das Gebäude zu verlassen. Auch berichteten Mitglieder des Gerichts, ihnen seien als Vergeltung für ihre Arbeit Strafverfahren angedroht und ihre Kommunikationskanäle gehackt worden.«
Staatliche Sozialausgaben und Armutsbekämpfung werden zunehmend durch private, klientelistische Wohltätigkeitsprogramme ersetzt, die von der First Lady oder der Mutter des Präsidenten geleitet werden – letztere ist auch Parlamentarierin. Auf diese Weise werden soziale Organisationen und ländliche Gemeinden, deren materieller Lebensstandard seit der Pandemie kontinuierlich gesunken ist, erfolgreich gespalten: auf der einen Seite die Empfänger*innen dieser milden Gaben oder selektiver staatlicher Geldtransfers, die gegen politische Loyalitätsversprechen vergeben werden, und auf der anderen Seite die »Terroristen«.
Doch muss Noboa, um die Institutionen ganz und gar den Interessen der Eliten anzupassen, die Verfassung von 2008 loswerden. Dafür ist das Referendum vom 16. November ein erster Gradmesser. Gegen ein riesiges Heer von Propaganda-Bots aus staatlichen Mitteln für das »Ja« setzen Ecuadorianer*innen ihre Kreativität in täglich neuen Memes, Liedern oder Cartoons für das »Nein« ein. Entscheidend für eine Verschiebung des derzeitigen Kräfteverhältnisses wird jedoch auch sein, wie und in welchem Umfang internationale Stimmen aktiv werden, um einen der inspirierendsten politischen Pfade im Kontext der globalen ökosozialen Krise zu verteidigen.