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»Die Wahrheit ist unsere Stärke«
Dem russischen Historiker Roy Medwedew zum 100 Geburtstag
Nicht vielen Menschen seiner Generation und seiner politischen Überzeugung ist es vergönnt, den 100. Geburtstag zu feiern. Das »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) verkürzte so manches Leben vorzeitig, gewaltsam, grausam und tragisch.
Roy Alexandrowitsch Medwedjew und sein Zwillingsbruder Shores sind am 14. November 1925 in Tbilissi, Hauptstadt Georgiens, geboren worden. Der Vater der beiden, Alexander Romanowitsch Medwedew (1899–1941) war Politoffizier und Dozent für Philosophie an einer Militärpolitischen Akademie, die jüdische Mutter Julia Isaakowna Reiman (1901–1961) eine erfolgreiche Cellistin. Die Brüder erhielten ihre ungewöhnlichen Namen nach zwei großen Sozialisten: dem Inder Manabendra Nath Roy und dem Franzosen Jean Jaurès. Alexander Medwedew ist während des Großen Terrors in der Stalinschen Sowjetunion, 1938, als angeblicher »Volksfeind« verhaftet worden und starb im Straflager Kolyma. Seine Söhne kämpften ab 1943 in der Roten Armee für die Befreiung ihrer Heimat und Europas vom Faschismus.
Während der im Krieg schwer verwundete Shores Medizin und Biologie mit Schwerpunkt molekulare Radiologie studierte, wandte sich Roy der Geschichtswissenschaft zu. Für beide wurde, auch angesichts des Schicksals ihres Vaters, der XX. Parteitag der KPdSU 1956 mit Nikita Chruschtschows »Geheimrede«, die nicht geheim zu halten war, zum Ausgangspunkt ihres antistalinistischen und dennoch konsequent sozialistischen Denkens und Wirkens. Während seiner Arbeit an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften in Moskau begann sich Roy der »Geschichte und den Folgen des Stalinismus« zuzuwenden, wie der Untertitel seines 1971 in der Bundesrepublik erschienenen Werkes, dessen Haupttitel einem Bekenntnis glich: »Die Wahrheit ist unsere Stärke«. Es folgten Übersetzungen in verschiedene westliche Sprachen und eine russische Ausgabe in einem Exilverlag in Frankfurt am Main. In der Sowjetunion blieb der internationale Bestseller verboten. Der Bekanntheitsgrad, den der Autor nunmehr aber über die Grenzen der UdSSR erlangt hatte, bewahrte ihn zwar nicht vor diversen Schikanen, jedoch immerhin vor langjähriger zerstörerischer Haft.
Sein Zwillingsbruder hingegen wäre beinahe für immer in einer psychiatrischen Anstalt verschwunden – eine den Stalinismus überdauernde nicht unübliche Methode, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Roy gelang es, Shores aus der Klinikhaft zu befreien, dank auch der Solidarität prominenter Wissenschaftler, vom Präsidenten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften Lew Keldysch bis hin zum gleichfalls gemaßregelten Physiker, »Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe« und späteren Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Geschildert wird dieser Sieg im gemeinsamen Buch der Medwedjew-Brüder, das auf Deutsch unter dem Titel »Sie sind ein psychiatrischer Fall, Genosse« erschien.
Während Shores Medwedjew jedoch anschließend nach England übersiedelte und dort nicht nur wissenschaftlich tätig, sondern auch bis zu seinem Tode 2018 politisch links aktiv war, blieb Roy mit seiner Familie in Moskau. Er protestierte gegen die Verfolgung und Ausbürgerung von Alexander Solshenizyn, hielt Kontakt zu dem gleichfalls ausgebürgerten Schriftsteller Lew Kopelew sowie zu anderen sowjetischen Oppositionellen und Dissidenten im In- und Ausland.
Die von Michail Gorbatschow angestoßene Perestroika brachte den Medwedew-Brüdern Rehabilitation und Anerkennung. Nunmehr fanden sie auch im eigenen Land das Publikum, das sie sich so leidenschaftlich gewünscht hatten. Und im Berliner Karl Dietz-Verlag erschien 1992 eine durch neue Archivfunde erweiterte dreibändige Ausgabe von Roys Stalinismus-Buch »Im Urteil der Geschichte«, das hilfreich für die Debatten unter ost- und westdeutschen Linken über Irrwege, Sackgassen, verfehlte oder erstickte Alternativen der kommunistischen Bewegung waren. Roy und Shores Medwedjew verfassten in der Folge auch mehrere Artikel für das »Neue Deutschland«.
Im Gegensatz zu seinem Bruder trat Roy Medwedjew 1989 wieder der KPdSU bei, aus der er drei Jahrzehnte zuvor ausgeschlossen worden war und die selbst nur noch zwei Jahre existieren sollte, bis zu Jelzins Verbot derselben. Roy verurteilte aufs Schärfste den Augustputsch der alten Kader des Militärs, Geheimdienstes und Parteiapparates ebenso wie die Einführung des Casino-Kapitalismus und den Ausverkauf Russlands unter Jelzins Präsidentschaft. Er setzte alsbald große Hoffnungen in Putin und hält ihm noch heute die Treue, was einstige Mitstreiter und aufrichtige Bewunderer seines wissenschaftlichen Werkes und seiner Lebensleistung mehr als irritiert. Aber wer will sich anmaßen, über ein Jahrhundertleben den Stab zu brechen?
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