nd-aktuell.de / 13.11.2025 / Kultur

Die alten Weddinger

Die alten Weddinger sind längst tot, aber die alten Weddinger, die nach ihnen kamen, haben noch einiges zu erzählen

Robert Rescue
Kneipe »Fortuna«, 1992, im »alten Wedding«
Kneipe »Fortuna«, 1992, im »alten Wedding«

Ich stehe mit Frau Grütters auf dem Bürgersteig. »Die alten Weddinger«, sagt sie mit einem Mal, »die sind ja alle schon tot.«

Nachdenklich schaue ich in Richtung Müllerstraße und versuche, mir die Zeiten vorzustellen, als es die alten Weddinger, die jetzt tot sind, noch gab. Der Western-Store gegenüber existierte damals schon, noch ohne Online-Shop, aber all die Regenschirm-Fachgeschäfte oder die Läden für Damenmode sind längst Geschichte und abgelöst von Dönerbuden und Barber-Shops.

Die Weddinger hießen Ali, Gitte, Aysche, Conny und Ronny. Sie gingen arbeiten oder auch nicht, sie tranken oder auch nicht und hatten Spaß am Leben oder auch nicht. Die Mauer fiel gerade, das Inseldasein Westberlins endete und die alten Weddinger schauten in eine ungewisse Zukunft und erinnerten sich an alte Zeiten und an noch ältere Weddinger, die längst tot waren.

Frau Grütters zählt für mich zu den alten Weddingern, obwohl sie zugezogen ist. Sie stammt aus Lampertheim in Hessen, meinem Geburtsort. Ich betrachte es als Wink des Schicksals, dass wir uns 56 Jahre nach meiner Geburt im Wedding kennengelernt haben. Sie kam 1984 mit ihrem Mann hierher. Am Anfang, so hatte sie mir erzählt, sei sie mal vor zur Seestraße gegangen, zum Gucken. Mehr hat sie nicht gesagt und ich bin sicher, dass sie seitdem nicht mehr dort gewesen ist. Ein abwegiger Gedanke, mag man meinen, aber viele Berliner sind in ihren Kiezen, tja, wie soll man das nennen, »verwurzelt«.

Jetzt stehen wir beide Lampertheimer, die vielleicht mal ausgezogen sind, um die weite Welt zu erkunden, auf dem Bürgersteig und schauen in Richtung Müllerstraße. Ich muss an die alte Dame denken, mit der ich mich vor Kurzem unterhalten habe. Auch eine alte Weddingerin, aber halt jünger als die Alten, die schon tot sind, weil die noch älter waren. Irgendwie so. Sie sei vor 60 Jahren von Reinickendorf in den Wedding gezogen, hat sie mir berichtet, zusammen mit ihrem frisch getrauten Mann, den sie vor ein paar Jahren zu Grabe getragen habe. Reinickendorf und Wedding, es gibt Berliner, die sind weniger rumgekommen.

Sie sei neulich im jüdischen Krankenhaus gewesen, erzählt die alte Frau weiter. Die Ärzte hätten ihr mitgeteilt, sie müsse nach Buch zur Weiterbehandlung. Was soll ich in Buch, habe sie die Ärzte gefragt. Was soll ich im Osten? Ich war noch nie im Osten und ich fange damit jetzt auch nicht mehr an.

Meine Güte, im Jahr 2025 noch Berliner zu treffen, die noch nie im anderen Teil Berlins waren, das hätte ich nicht gedacht. Ich erinnere mich, wie ich 1995 von Kreuzberg aus mit zwei Leuten zu einer Party nach Tegel wollte und der eine ist dann Kochstraße ausgestiegen, weil er nicht durch den Ostteil fahren wollte. Der steht womöglich gerade an seinem Späti in Kreuzberg und erzählt einem Kumpel, dass die Ärzte meinten, er müsse in den Prenzlauer Berg, aber er habe abgewunken und gesagt, er sei da noch nie gewesen und wolle da auch nicht hin. Wirklich nicht zu glauben, aber wahr.