nd-aktuell.de / 14.11.2025 / Kultur

Die Liebe und das Tschüss von Mulatu Astatke

Letzter Tanz im Huxleys: Nach mehr als fünf Jahrzehnten im Jazz spielte Mulatu Astatke in Berlin sein wahrscheinlich fünftletztes Konzert

Luca Glenzer
In seiner Musik vereint Mulatu Astatke Musik aus drei Kontinenten (hier vor drei Mikrofonen).
In seiner Musik vereint Mulatu Astatke Musik aus drei Kontinenten (hier vor drei Mikrofonen).

Diesen Abend wollte offenbar niemand verpassen: Schon seit Monaten war das Berlin-Konzert von Mulatu Astatke ausverkauft. Haben seine Liveshows ohnehin einen legendären Ruf, wurde der Kartenverkauf dadurch befeuert, dass es die Abschiedstour des äthiopischen Musikers sein sollte. Nach dem Berlin-Konzert am Donnerstag folgen noch vier Shows in London. Danach ist Schluss, für immer.

Astatke ist eine der wenigen lebenden Legenden des Jazz – eines Genres also, das sich in besonderer Weise über größtenteils bereits lange verstorbene Musiker*innen definiert: Miles Davis, John Coltrane, Nina Simone[1], Charlie Parker – sie alle leben schon viele Jahrzehnte nicht mehr. Astatke, mittlerweile 81 Jahre alt, hingegen schon.

Zugleich zählte er im Gegensatz zu den vier genannten Künstler*innen nie zum ganz klassischen Jazz-Kanon. Stattdessen bewegt er sich seit über fünf Jahrzehnten zwischen den Welten, im wahrsten Sinne des Wortes. Geboren in Jimma im westlichen Äthiopien, schicken ihn seine Eltern 1956 nach England auf die Schule. Eigentlich sollte er Pilot werden, doch dann zog er in die USA, um in Boston Musik zu studieren. Dort war vor allem Jazz angesagt. Und so begründete er im New York der späten 60er den Ethio Jazz, eine Mixtur aus den Skalen der traditionellen äthiopischen Musik und dem Latin Jazz US-amerikanischer Prägung. Durch das Zusammenspiel mit karibischen Musikern gesellte sich ein weiterer Einfluss hinzu. So vereinen sich in Astatkes Sound gleich drei Kontinente.

Dass ein Großteil des Publikums am Donnerstagabend im Berliner Huxleys problemlos Astatkes Enkelgeneration zugerechnet werden könnte, ist nicht verwunderlich. Denn nachdem seine Musik 2005 durch Jim Jarmuschs Filmklassiker »Broken Flowers« wiederentdeckt wurde, wuchs auch Astatkes Einfluss auf die zeitgenössische Popkultur. Egal ob Madlib, Four Tet[2], DJ Khablab oder Kayne West: Sie alle griffen im Laufe der Jahre auf Samples von Astatkes Stücken zurück und trugen so zu einer neuen Mulatu-Renaissance bei.

Aller Verankerung in der Gegenwart zum Trotz scheint der Vibraphonist in dem Neuköllner Konzertsaal die antiquierte Regel zu bestätigen, dass dem Alter ein besonderer Respekt gebühre. Denn inmitten seiner deutlich jüngeren Begleitband ist er zweifellos der Fixpunkt – eine Art sanftmütiger Bandpatriarch. Und dafür muss er gar nicht viel machen: Kleine Handzeichen oder Gesten genügen, um musikalische Wendungen und Breaks einzuleiten. Nicht nur das Publikum, auch seine siebenköpfige Formation richtet den Blick immer wieder auf den Bandleader.

Mit langsam trippelnden Schritten bewegt er sich zwischen Vibraphon, Percussion und Keyboard. Meist setzt er dabei nur dezente musikalische Akzente. Die großen Showeinlagen kommen von seinen Mitmusikern: etwa von Saxophonist James Arben und Trompeter Byron Wallen, die neben ikonischen Bläsersätzen aus Hits wie »Yègellé Tezeta« und »Yèkèrmo Sèw« immer wieder zu geradezu kosmischen Soloparts ansetzen, ohne dabei in selbstgefälliges Gefrickel zu verfallen.

Man merkt: Die Band ist mehr als die Summe der einzelnen Teile, sie funktioniert als Einheit. Was man nicht von allen Formationen sagen kann, die einen derart exponierten Bandleader haben. Der Spaß am gemeinsamen Musizieren ist in jedem Moment zu spüren: etwa bei Percussionist Richard Olatunde Baker, der sein Spiel mit durchgehend mildem Lächeln absolviert.

Mit zunehmendem Verlauf spielt sich die Band immer weiter in Trance, das Publikum zieht nahtlos mit. Unterbrochen werden die zumeist überlangen Stücke von kurzen Ansagen Astatkes. Sein Enthusiasmus überschlägt sich dabei auf durchaus sympathisch-unbeholfene Weise, wenn er mit rauer Stimme in den Saal donnert, die Band liebe das »großartige Publikum«. Großer Applaus.

Und nach der Zugabe »Yèkatit« beschleicht einen das Gefühl, einem in musikalischer Hinsicht durchaus historischen Moment beigewohnt zu haben. Den würde man gerne konservieren und macht noch mit zahlreichen Besucher*innen einen Schlenker zum Merch-Stand, um sich mit einer der zahllosen Platten aus Astatkes-Backkatalog auszustatten. Seine Musik, so denken viele, wird man zukünftig nur noch allein zuhause im Wohnzimmer zu hören bekommen.

Doch das stimmt nicht: Draußen, vor dem 50 Meter von »Huxleys Neue Welt« entfernten Späti, beschallen bereits Astatkes Evergreens das Berliner Pflaster. Nach und nach formiert sich eine kleine, tanzende Menschenmenge – ausgestattet mit kühlen Getränken. Der Abend, der eigentlich schon beendet schien, geht also doch noch weiter.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194303.sexismus-im-pop-candy-girls-von-sonja-eismann-reine-wuerstchenparty.html?sstr=nina|simone
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/165487.plattenbau.html?sstr=Four Tet