An der Betonwand vor dem Kongress-Saal in Tübingen hängen Graffiti-Schablonen, darauf ist ausgestanzt: »Soldaten sind Mörder«, »Wehrdienst ist Zwangsarbeit«. Gegenüber erstrecken sich in einer langen Reihe Infostände friedenspolitischer, gewerkschaftlicher und linker Organisationen, Parteien und Zeitungen. Unter dem Motto »Militärrepublik? Verweigern!« haben am vergangenen Wochenende mehr als 150 Menschen in der Universitätsstadt lebhaft diskutiert, Flugblätter verteilt und Unterschriften gesammelt. Ausgerichtet hat den Kongress die Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI), die seit 1996 das Wiedererstarken des deutschen Militarismus analysiert und kritisch begleitet.
Für viele Friedensbewegte aus der ganzen Republik ist der Besuch des IMI-Kongresses ein alljährliches Ritual. Doch in diesem Jahr scheinen die Menschen besorgter als sonst. Der Umbau Deutschlands zur »Militärrepublik« sei im vollen Gange, hieß es in der Ankündigung – der Kongress wolle »Wege ausloten, diesen Prozess aufzuhalten«. Kurz vor Kongressbeginn wurde bekannt, dass die Regierungskoalition sich auf ein neues Wehrpflicht-Modell geeinigt hat.
Bereits im ersten Referat des Wochenendes machte IMI-Mitbegründer Tobias Pflüger deutlich: Da lässt sich nicht mehr viel aufhalten – man könne sich »der Militärrepublik nur noch verweigern«, so der frühere Europaabgeordnete und derzeitige Mitarbeiter eines Linke-MdB. Konkrete Praxistipps für die Kriegsdienstverweigerung gab es von Susanne Bödecker von der DFG-VK. Sie berichtete auch von ihrer Arbeit im Stuttgarter Büro der ältesten deutschen Friedensorganisation, wo sich wegen der drohenden Wehrpflicht immer mehr Eltern melden – in Sorge um ihre Söhne.
»Der Wind, der antimilitaristischen Kämpfern entgegenschlägt, wird rauer.«
Claudia Haydt IMI
Praxisbeispiele zeigten, wie sich Widerstand formiert: Tram-Fahrer in München weigern sich, Fahrzeuge mit Bundeswehr-Werbung zu fahren; Initiativen wie »Sagt nein!« bringen Kriegsgegner im gewerkschaftlichen Bereich zusammen. Bündnisse wie »Rheinmetall entwaffnen« oder »Shut Elbit Down« blockieren Rüstungsbetriebe. Die Initiative »Orte der Aufrüstung«, vorgestellt von dem Aktivisten Tobi Rosswog, hat mittlerweile über 50 Orte kartiert, an denen zivile Betriebe oder Infrastruktur in Rüstungsproduktion oder militärische Nutzung überführt werden.
Zunehmend führt ein solcher Protest zu Kollisionen mit Unternehmen und Behörden. Fairouz Qasrawi vom Kollektiv »Decolonial Scholars« berichtete von einer »geschlossenen Architektur der Repression« gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung in München, bestehend aus einem ganzen Netzwerk zivilgesellschaftlicher Akteure und staatlicher Stellen. Räume für kritisches Denken und Debatten würden auf diese Weise systematisch geschlossen. Diese »Zensur mit Verwaltungsstempel« sei Teil eines größeren, gefährlichen Trends – hin zu einem Staat, der Grundrechte einschränkt, erklärt Qasrawi.
Mehrfach wurde auf dem Kongress auch der Fall eines Freiburger Schülers angeführt, dem eine Anklage droht, weil er sich im Internet über den Besuch eines Jugendoffiziers an seiner Schule lustig gemacht hatte. »Der Wind, der antimilitaristischen Kämpfern entgegenschlägt, wird rauer«, so Claudia Haydt von der IMI.
Besonders intensiv diskutiert wurde der »Operationsplan Deutschland«, ein knapp 1400 Seiten umfassendes, als geheim eingestuftes Konzept. Nach allem, was bisher bekannt ist, strebt das Militär mit diesem Plan bereits vor dem Eintreten eines sogenannten Spannungs- oder Verteidigungsfalls Zugriff auf zivile Infrastruktur an. Außerdem sei durchgesickert, dass bereits sehr spezifische Pläne vorlägen – beispielsweise zur Frage, wie mit russischen Kriegsgefangenen verfahren werden soll. Der Mythos von der »Parlamentsarmee« lasse sich mit dem »Operationsplan« endgültig zu den Akten legen: Kein Parlamentarier darf Einsicht nehmen.
Während Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall die industrielle Seite des Militarismus verkörpern, findet dieser – subtil und popkulturell kodiert – längst auch im Alltagsbewusstsein statt, wie der Content Creator Simon David Dressler erläuterte. Formate wie die Webserie »Explorers« oder Kooperationen mit Influencern inszenierten das Soldatenleben als Abenteuer und »großen Spaß«. Dressler kritisierte auch die Rolle der Öffentlich-Rechtlichen: Antimilitaristische Stimmen würden in Talkshows als Feigenblatt präsentiert und gleichzeitig als randständige Meinung dargestellt – obwohl eine Antikriegshaltung eigentlich eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hätte.
Die IMI-Tagung, die vom lokalen freien Radio live übertragen wurde und deren Beiträge in Kürze zum Nachhören verfügbar sein werden, machte deutlich: Die Bundesrepublik bereitet sich immer schneller auf einen neuen großen Krieg vor. »Es gibt schon dezidierte Zeitpläne«, erläuterte der Abgeordnetenmitarbeiter Daniel Lücking, der als Soldat selbst Auslandseinsätze im Kosovo und in Afghanistan absolvierte und als Offizier die Bundeswehr verließ. Massenhafte Proteste dagegen lassen noch auf sich warten. Was nötig wäre, um dem deutschen Militarismus endgültig den Nährboden zu entziehen, daran ließ die Vertreterin von »Sagt nein!« beim Abschlusspodium keinen Zweifel: »Revolution ist großartig, alles andere ist Quark«, zitierte sie Rosa Luxemburg.