nd-aktuell.de / 17.11.2025 / Politik

Mittelmeer: Die unsichtbaren Toten

NGO-Sprecherin: »Immer mehr Boote verschwinden undokumentiert«

Melanie M. Klimmer
Gestrandetes afrikanisches Flüchtlingsboot auf der griechischen Insel Kythira
Gestrandetes afrikanisches Flüchtlingsboot auf der griechischen Insel Kythira

Sie filmen gewaltsame Pull- und Push-backs, retten Ertrinkende aus havarierten Schlauchbooten und dokumentieren Folterspuren von Überlebenden. Sie leisten psychologische Hilfe oder behandeln Schwangere mit Benzingasvergiftung und -verätzungen bis zu deren Ausschiffung, wenn Italien oder Malta eine medizinische Evakuierung mit Hubschrauber oder Schnellboot nicht für notwendig erachten. Seit Jahren berichten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), wie maltesische oder italienische maritime Rettungsleitstellen auf Beistandsgesuche nicht reagieren, die Koordination verweigern, oder wie die Küstenwachen Bootsflüchtlinge attackieren statt Menschen zu retten.

»Wir sahen Verbrennungen mit Zigaretten, Knochendeformationen und Weichteilnarben nach Schlägen, mit einer Zange amputierte Finger, Messerstich- und Schussverletzungen«, berichtet eine australische Ärztin von Bord der »Humanity 1« im Interview. Viele Überlebende seien erschöpft von dem, was sie durchgemacht haben. »Die Strapazen der Überfahrt sind oft die letzte Folge von über einen längeren Zeitraum erduldeten, entsetzlichen Misshandlungen und inhumanen, entbehrungsreichen Lebensbedingungen«, berichtet die Ärztin.

Misshandlungen vor und während der Überfahrt

Davon zeugen auch die zahlreichen aufgezeichneten Interviews von Seenotrettungsorganisationen, wie SOS Humanity, mit Menschen, die bis zu achtmal versucht haben sollen, einem Kreislauf aus Folter, finanzieller Erpressung ihrer Familien und gewaltsamen Rückführungen auf See, den sogenannten Folterzyklen[1], zu entkommen. Bei Einsätzen für SOS Humanity dokumentieren Human Rights Observer (HRO) chronologisch rettungsrelevantes Beweismaterial und Menschenrechtsverletzungen auf See.

»Wegen mangelnder Aufklärung und Rettungskapazitäten bleiben viele Schiffbrüche und Todesopfer undokumentiert.«

Wasil Schauseil SOS Humanity

Ihre Werkzeuge sind GPS-Koordinaten, Bell Books (Revierbücher), Audiomitschnitte der Funkkommunikation, Videos mit Drohne oder Screenshots von Online-Tracker-Diensten zu Schiffs- und Flugzeugbewegungen. In ihre Beobachtungen von der Brücke aus fließen Informationen anderer Arbeitsbereiche des Schiffs mit ein, wie die der Schutzbeauftragten im Care-Team, das sich um die Geretteten medizinisch kümmert, oder aus den Such- und Rettungsteams auf den Schnellbooten.

Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen Teil der Arbeit

Das Bezeugen ist für viele NGOs ein wesentlicher Teil der Arbeit von Seenotrettungsorganisationen. Und diese soll nun weiter verstärkt werden[2]. Ab dem kommenden Jahr entsendet die zivile Seenotrettungsorganisation SOS Humanity ihr zweites Rettungsschiff »Humanity 2«.

Von dort aus sollen Menschenrechtsverletzungen vor Tunesien beobachtet werden, »da dort immer mehr Boote einfach verschwinden«, berichtet Till Rummenhohl, Geschäftsführer der Organisation, auf einer Pressekonferenz. Oft seien es schnell zusammengeschweißte Stahlboote, die bei der nächsten Welle wie ein Stein untergingen, so Rummenhohl. »Wir erhalten immer wieder Berichte, wie dort mehrere Menschen ohne Boot, zusammengeklammert wie ein menschliches Floß, über mehrere Tage auf dem Meer treiben.«

Sinkende Opferzahlen täuschen

Vor diesem Hintergrund seien zurückgehende, offizielle Todeszahlen, wie die der Internationalen Organisation für Migration (IOM), nur mit größter Vorsicht zu betrachten. »Wegen mangelnder Aufklärung und Rettungskapazitäten bleiben viele Schiffbrüche und Todesopfer undokumentiert«, so auch der Koordinator Kommunikation von SOS Humanity, Wasil Schauseil. Festsetzungen und anderweitige Behinderungen von zivilen Rettungsschiffen führten dazu, dass Menschenrechtsverletzungen und Schiffbrüche schlicht nicht dokumentiert werden könnten.

Mit europäischer Finanzierung und Unterstützung hinderten unter anderem die tunesische oder libysche Küstenwache Menschen gewaltsam an der Flucht. »Sie bringen diese Menschen nach Libyen zurück, wo willkürliche Inhaftierung, Folter und Erpressung an der Tagesordnung sind, die von der UN-Untersuchungsmission als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wurden.« Solche Rückführungen, die libysche und tunesische Akteure im Auftrag der EU und europäischer Regierungen durchführten, seien illegal, so Schauseil.

Rettungsleitstelle in Tripolis entspricht nicht den Standards

Daher bedeuten geringere Ankunftszahlen in Europa nicht zwingend, dass weniger Menschen auf der Flucht sind, sondern dass sie entgegen der Genfer Flüchtlingskonvention an der Wahrnehmung ihres Rechts auf Asyl gehindert werden.

»Ohne die zivile Flotte wäre es nahezu unmöglich, Menschenrechtsverletzungen auf See öffentlich zu machen und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen«, sagt die stellvertretende Vorständin von SOS Humanity Lisa Bogerts und fordert: »Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen solche Rechtsbrüche von Behörden, Vorfälle und Schiffsunglücke auf See untersuchen und Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen«, so Bogerts. Die Seenotrettungsleitstelle in Tripolis erfülle zum Beispiel keine internationalen Standards: So sei diese nicht rund um die Uhr erreichbar und verfüge nicht über ausreichende Sprachkompetenzen.

»Nationale Rettungsleitstellen müssen aber nach den IAMSAR-Richtlinien der UN-Sonderorganisation International Maritime Organization (IMO) 24 Stunden am Tag auf Englisch erreichbar sein und Notrufe auf See ohne Ausnahme beantworten«, betont Bogerts. SOS Humanity dokumentiert daher akribisch, wenn sich Akteure auf See nicht rechtskonform verhalten und die Standards des internationalen Seerechts und völkerrechtlicher Prinzipien brechen. Solche Zeugnisse machen die zivile deutsche Rettungsflotte und Beobachtungsflüge anderer NGOs im Mittelmeer unbequem.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194916.asylpolitik-abschottung-auf-dem-ruecken-der-schwaechsten.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195438.seenotrettung-oyvon-strategisch-kleiner.html