In Neoprenanzügen und mit improvisierten Schwimmhilfen versuchen viele junge Heranwachsende, die Straße von Gibraltar zu durchschwimmen und verlieren dabei ihr Leben. Die an Land gespülten Körper sind oft nicht mehr zu identifizieren – kaum erträglich für deren Angehörige. Institutionelle Untätigkeit, die Externalisierung der Grenzen und Verzögerungen bei Rettungsmaßnahmen kosten Menschenleben, stellt die Beobachtungsstelle Caminando Fronteras auch in ihrem diesjährigen, im Juni in Madrid veröffentlichten Monitoring-Bericht fest. Seit 2005 beobachtet die gemeinnützige Menschenrechtsorganisation die Situation auf den Migrationsrouten an der EU-Westgrenze zwischen Afrika und Spanien.
Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres ertranken demnach beim Versuch, Spaniens Küsten zu erreichen, 1865 Menschen oder werden vermisst, auch 342 Kinder[1]. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) dokumentierte 113 Schiffsunglücke und 38 vermisste Boote. 383 Menschenleben forderten die Durchquerung der Straße von Gibraltar, Überfahrten von Algerien in Richtung Balearen und die Route durch die Alborán-See zum spanischen Festland. Die Todesopfer stammen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, Bangladesch, dem Sudan, vom Horn von Afrika, aus der DR Kongo, West- und Nordafrika oder den Komoren im Indischen Ozean.
Die Distanzen, welche die Menschen auf dem Seeweg nach Europa in fragilen Booten zu überwinden versuchen, wurden größer. Am tödlichsten sei die Überfahrt von Mauretanien aus über den Atlantik[2] zu den Kanarischen Inseln. 2024 ertranken dort allein 6829 Menschen; in den ersten fünf Monaten 2025 waren es laut Bericht 1318. Auf dieser Strecke werden die meisten Boote vermisst, die Wracks auch an den Küsten der Karibikinseln Trinidad und Tobago angespült. Die Fluchtrouten von Senegal und Gambia oder dem mehr als 1500 Kilometer entfernten Conakry in Guinea aus über den Atlantik forderten 110 Menschenleben.
Die Todesfälle seien Ergebnis politischer Entscheidungen, berechnender Unterlassungen und einer Grenzschutzarchitektur, die den Tod als Teil der Migrationskontrolle[3] normalisiere, sagt Helena Maleno Garzón, die Koordinatorin der Studie. Die Meerenge von Gibraltar sei daher nicht nur physische Grenze, sondern auch ein symbolischer und politischer Raum systematischer Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten: des Rechts auf Leben, Identität und Erinnerung. Die SAR-Aktivitäten basierten häufig nicht auf humanitären Grundsätzen, sondern auf Willkür, beobachtet die NGO. Die an den Küsten der Balearen-Inseln angeschwemmten Leichen würden zeigen, dass sich viele Schiffsunglücke nahe der Küsten und damit in Reichweite der maritimen und luftgestützten Rettung befunden haben müssen. Das werfe Fragen auf, warum Schiffbrüchige – oft Vertriebene von Ländern am Horn von Afrika – dort trotzdem nicht rechtzeitig haben gefunden werden können.
Caminando Fronteras stellt im Monitoring-Bericht ein deutliches Muster an systematischer, institutioneller Vernachlässigung[4] fest. Unter anderem dokumentiert die NGO einen Seenotfall mit 183 Personen an Bord. Diese waren am 7. März in einem seeuntauglichen Boot von Nouadhibou aus in Richtung Kanaren[5] aufgebrochen und in Seenot geraten. Das spanische Such- und Rettungsschiff »Guadamar Urania« habe sich aber erst sechs Tage nach dem letzten Signal auf den Rettungseinsatz vorbereitet. Zehn Tage sollte es schließlich dauern, bis die Menschen gerettet wurden. Für sieben Personen kam da schon jede Hilfe zu spät. Dabei könnte eine bessere Abstimmung zwischen Spanien und afrikanischen Anrainerstaaten bei der Koordinierung der SAR-Operationen Todesfälle vermeiden.
Derartige Vorfälle würden oft nicht aufgeklärt[6], die Ursachen der Seenotfälle nicht weiter untersucht, kritisiert Caminando Fronteras. Die NGO beobachtet immer wieder erhebliche Zeitverzögerungen bei der Einleitung von SAR-Maßnahmen, was Menschenleben fordere. Regelmäßig werde versäumt, koordinierte Rettungsmaßnahmen einzuleiten oder die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, selbst dann, wenn Standortdaten und ausreichende Informationen über den Seenotfall vorlägen. Häufig werde erst eingegriffen, wenn der unmittelbare Untergang eines Bootes drohe.
Alarmierend sei die zeitliche Begrenzung der Luftüberwachung vor allem dort, wo erfahrungsgemäß ein sehr hohes Risiko für Schiffsunglücke bestehe. Anstatt diese auszuweiten, um Schiffstragödien zuvorzukommen, würden die Standards zurückgefahren, so der Bericht. Passive SAR-Methoden nähmen unterdessen zu: Die Ortung von Booten in Seenot werde zusehends an Handelsschiffe und private Boote abgetreten. Das Vorgehen der staatlichen spanischen Seenotrettung sei die Folge der Externalisierungs- und Abschreckungspolitik an den EU-Außengrenzen.
2024 starben bei der Überfahrt in Richtung Spaniens Küsten laut Caminando Fronteras 10437 Menschen aus 28 Nationen oder wurden als vermisst gemeldet, darunter 1538 Kinder – ein trauriger Rekord.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195530.seenotrettung-tod-als-teil-der-migrationskontrolle.html