Ich wuchs in den 70er Jahren in der stockkonservativen schwäbischen Provinz auf, in einem Haus am Dorfrand: Auf der sehr spärlich befahrenen Straße konnte man tagein, tagaus diversen Hüpf- und Ballspielen nachgehen, und hinterm Haus lagen Getreidefelder, an deren Rändern wiederum der eine oder andere Obstbaum stand und auf welchen man gemeinsam mit den Nachbarskindern nach Herzenslust Versteck spielen oder jene Verfolgungsjagden nachstellen konnte, die man am Abend zuvor im Fernsehen gesehen hatte.
Mein Schulweg dauerte circa eine Minute, denn die Grundschule, die ich besuchte, lag nur ein paar wenige Häuser entfernt. In der Rückschau war es ein Kindheitsparadies: In den Gärten der Leute wuchsen Brombeeren, Pflaumen oder Himbeeren, die man pflücken konnte, es gab jede Menge Bewegungsfreiheit, und weit und breit existierten kaum Gefahren, die einem drohten. Und den einzigen Lärm machten wir, die Kinder, und das nicht zu knapp.
Die beiden Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen, das Überwachen und das Arbeiten, hatten die beiden Parteien – Herr Haberle und Familie Hummeler – ordentlich untereinander aufgeteilt.
Gegenüber meinem Elternhaus wohnte damals ein kinderloses Ehepaar. Der Mann, Herr Haberle[1] (ich hatte ihn an dieser Stelle schon einmal vor etwa einem Jahr erwähnt), interessierte sich weder für Sport, Technik oder Kulturelles noch für das politische Tagesgeschehen. Er ging nicht wandern oder angeln, hatte kein Haustier, kein Auto, keine Modelleisenbahn im Keller und war kein Bastler. Die Kommunikation mit seiner Ehefrau schien er auf das Notwendigste reduziert zu haben, jedenfalls sah man die beiden niemals im Gespräch miteinander. Und er las auch nichts, sieht man davon ab, dass er am Wochenende einen Blick in die »Bild am Sonntag« zu werfen schien.
Er hatte ein Hobby, das viele Menschen, die in ländlichen Gegenden wohnen, teilen: Er sah gerne aus dem Fenster und rauchte dabei. Zugegeben: Auf der Straße passierte nicht viel, das zu beobachten sich gelohnt hätte, doch davon ließ er sich nicht im Geringsten irritieren. Allabendlich konnte man ihn dort an seinem Küchenfenster beobachten, an dem er sich Punkt 17 Uhr zu zeigen pflegte, bevor er es Punkt 22 Uhr wieder verließ, um schlafen zu gehen.
Stets trug er ein weißes Feinripp-Unterhemd. Seine Ellenbogen ruhten auf einem bequemen Kissen, während er seinen Blick konzentriert über den Gehweg und die Straße vor seinem Haus schweifen ließ. Neben ihm lag wie festgetackert seine »Lord Extra«-Schachtel, und zwischen seinen Fingern glomm immer eine Zigarette.
Wie gesagt: Auf der Straße oder im Vorgarten des gegenüberliegenden Wohnhauses ereigneten sich keine bahnbrechenden Sensationen, doch es passierte immerhin mehr und Aufregenderes als im deutschen Fernsehprogramm, und zwar live, in Farbe und »in Echtzeit«, wie man heute auf Deppendeutsch sagt.
Ob es sich nun um Kinder auf dem Weg nach Hause, Dorfbewohner auf dem Weg zum nahe gelegenen Zigarettenautomaten, tratschende Hausfrauen oder verdächtige Spaziergänger handelte oder um den mit seinem Sportwagen regelmäßig in unserer Auffahrt ein- und ausparkenden und gewiss irgendwie verdächtig wirkenden Lebensabschnittsgefährten meiner großen Schwester, der verstörenderweise schulterlanges Haar und beeindruckende Koteletten zur Schau stellte – Herr Haberle hielt unverdrossen auf seinem Posten Wacht und behielt alles eisern im Visier. Nichts entging ihm.
Besonders gern schien er von seinem Fensterplatz aus den einen oder anderen Nachbarn beim samstäglichen Autowaschen und beim Verrichten von Gartenarbeiten zu beaufsichtigen: Rasenmähen, Bäume beschneiden, Tomaten ernten. Da hellte sich seine meist leichenbittere Miene kurz auf, als wollte er wortlos mitteilen: Endlich wird hier gearbeitet und nicht mehr faul in der Gegend herumgelungert.
Die Nachbarn, die das Haus direkt gegenüber den Haberles bewohnten, die Familie Hummeler, waren wiederum das genaue Gegenteil: Sie – Mutter, Vater, Sohn – hielten es in ihren eigenen vier Wänden keine Viertelstunde aus, sondern werkelten, ramenterten und tobten ununterbrochen in ihrem Garten und in der näheren Umgebung umher, als gäb’s kein Morgen: Rasenmähen, Bäume beschneiden, Tomaten ernten, Autowaschen.
Selbst wenn alles erledigt war, gaben sie keine Ruhe: Immer gab es was zu jäten, zu harken, zu düngen und umzugraben. Brennholz zerhacken und stapeln, Gemüsebeete gießen, Zäune streichen, streunende Katzen verscheuchen, Fenster putzen, Hausflur fegen, Wäsche aufhängen, Garage aufräumen, Risse und Löcher in der Gartenmauer ausbessern, Regentonne aufstellen, Schädlinge bekämpfen, Schnee räumen, Kuchen backen. Es gab immer etwas zu tun. Und wenn es ausnahmsweise einmal nichts zu tun gab, musste man sich eben eine Tätigkeit suchen. Mußezeit ist schließlich aller Laster Anfang.
So war alles bestens geregelt: Die beiden Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen, das Überwachen und das Arbeiten, hatten die beiden Parteien – Herr Haberle und Familie Hummeler – ordentlich untereinander aufgeteilt. Keiner kam dem anderen in die Quere: Die Hummelers schufteten und schwitzten von früh bis spät, und Herr Haberle, der jeden Tag pünktlich an seinem Ausguck saß, kontrollierte das Treiben mit strengem Blick und passte auf, dass alles sachgemäß vonstattenging.
Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht sinnvollerweise beides, das Überwachen wie das Arbeiten, stark reduziert werden sollte. Sicher ist jedenfalls: Gegenwärtig fährt die Lokomotive des Fortschritts in die entgegengesetzte Richtung.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195572.rentner-am-fenster-herr-haberle-und-die-hummelers.html