Nürnberg, 20. November 1945: Im weitgehend unzerstört gebliebenen Justizpalast wird das Militärtribunal der Alliierten gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher eröffnet. Auf der Anklagebank sitzen 24 hochrangige Nazis, Militärs und Industrielle. Ihnen werden Verschwörung gegen Frieden und Humanität, die Vorbereitung und Entfesselung eines Angriffskrieges unter Bruch internationaler Verträge, Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, darunter die millionenfache Ermordung deutscher und europäischer Juden.
Herbert Mosch aus Oederan in Sachsen ist als junger Mann in die Wehrmachtsuniform gepresst worden. Der Sohn der Antifaschisten und Kommunisten Hans und Luise Mosch hat Glück im Unglück. Dank seiner Berufsausbildung als Elektriker und folgender Qualifizierung an der Industrieschule in Chemnitz ist er im Hinterland für die Wartung von Flugzeugen zuständig. Es wäre für ihn ein Verrat an den Idealen der Eltern gewesen, hätte er mit der Waffe in der Hand im Osten gegen die Rote Armee oder Partisanen in Russland, Belarus oder der Ukraine kämpfen müssen. Andererseits weiß er aus der Zeit, als er der Mutter bei ihrer illegalen antifaschistischen Tätigkeit beistand, dass man unauffällig sein, sich notfalls auch scheinbar anpassen muss.
Herbert Mosch berichtet, dass er lange nicht so mutig gewesen sei wie ein anderer Soldat aus seiner Einheit, mit dem er befreundet war. Dieser trug stets ein Foto des britischen Königs Georg VI. und Stalins bei sich, um sich bei günstiger Gelegenheit von der Truppe absetzen und beim »Feind« als Sympathisant ausweisen zu können. Viele seiner Kameraden, vor allem jene, die aus dem Kaukasus zurückversetzt wurden, sind schon längst keine fanatischen Anhänger der Nazis mehr. Trotzdem ist Herbert Mosch vorsichtig. Er beherzigt die Mahnung seines Vaters in einem Brief, den er und seine Mutter über ein illegales Netz der Genossen aus Frankreich zugespielt bekamen: »Vorsichtig, ja sehr vorsichtig, stecken die Veilchen ihre Köpfchen hervor, zu schauen, ob die Zeit gekommen ist, zu neuem Leben erwachen zu dürfen.«
Hans Mosch, gelernter Bäcker, Stadtrat der KPD in der erzgebirgischen Kleinstadt Oederan, Gewerkschafter, Redakteur des »Roten Leuchtturms«, der Lokalzeitung der Kommunisten, Naturfreund und Aktivist im Arbeiter-Samariterbund, bei dem er seine Frau Luise kennen- und lieben gelernt hat, ist kurz nach dem Machtantritt der Nazis in Deutschland, am 3. März 1933 von SA-Männern festgenommen und ins KZ Sachsenburg gebracht worden. Wegen »Hochverrats« verurteilt, musste er ein Jahr Haft im Zuchthaus Bautzen verbüßen. Nach der Entlassung wieder im Widerstand tätig, drohte alsbald erneute Verhaftung. Auf Anraten der Genossen emigrierte Hans Mosch in die Tschechoslowakei, war im illegalen Grenzdienst der KPD tätig, ging schließlich nach Spanien, um die dortige Volksfrontregierung gegen die Franco-Putschisten und deren Verbündete, Hitlerdeutschland und Mussolini-Italien, zu verteidigen. Nach der Niederlage der spanischen Republik schlug er sich wie so viele Interbrigadisten nach Frankreich durch und schloss sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht der Résistance an. Am 30. Mai 1944, drei Monate vor der Befreiung von Paris, wurde er von der Gestapo aufgespürt und ermordet. Von diesen letzten Stationen im Leben des Hans Mosch erfuhren der Sohn und dessen Frau erst nach der Befreiung vom Faschismus.
Herbert Mosch erzählt, wie er kurz vor Kriegsende mit einigen Kameraden desertierte, sich vor SS- und Wehrmachtseinheiten in Wäldern und kleinen, abgelegenen Ortschaften versteckte, auf die Befreier harrend: die Engländer. Herbert Mosch kommt in britische Kriegsgefangenschaft und türmt bei nächster Gelegenheit, denn er will in die sowjetische Besatzungszone, dort am Aufbau eines neuen Lebens, einer neuen Gesellschaft mittun. Im Februar 1946 kann er seine Mutter wieder in die Arme schließen.
An Hans Mosch erinnert in Chemnitz eine kleine Gedenktafel, sein Ehrengrab befindet sich im südfranzösischen Cassagnas, eine Messingplatte erinnert an den deutschen Interbrigadisten auch in einem Pinienhain im katalonischen Fararella. Die ehemalige Widerstandskämpferin Luise Mosch, Jahrzehnte als Gemeindeschwester in Oederan tätig, hat ebenfalls ein Ehrengrab, auf dem örtlichen Friedhof.
Herbert Mosch feiert am 22. November in Berlin seinen 100. Geburtstag. Dass Deutschland sich wieder, 80 Jahre nach dem Nürnberger Tribunal, zum Krieg rüstet, findet er empörend. Von den damals angeklagten Hauptkriegsverbrechern waren zwölf zum Tode und sieben zu Haftstrafen verurteilt worden. Zugleich wollte das Gericht der Völker Angriffskriege ein für alle Mal verbieten, unmöglich machen. Dies gelang leider nicht und ist für den Wehrmachtsdeserteur Herbert Mosch die größte Enttäuschung seines Lebens: »Krieg ist das größte Übel.«
Lektüretipp: Herbert Mosch, »Mein Vater, der Rote Stadtrat. Ein Leben zwischen Aufbruch, Verfolgung und Widerstand in Oederan, Barcelona und Cassagnas«; zu beziehen über vvn-bda-chemnitz.de[1]