Das erste Buch Ihrer Familiensaga trägt den Titel »Frei«. Freiheit wird im Deutschen oft als »Möglichkeit der Wahl« definiert. Auch in Ihrem zweiten Buch »Aufrecht« geht es um die Möglichkeit der Wahl und um die persönlichen Folgen getroffener Entscheidungen. Ist »Möglichkeit der Wahl« Ihre Definition von Freiheit?
Nein, ich unterscheide zwischen Wahl und Handlungsfähigkeit: Eine Wahl ist die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen, Handlungsfähigkeit hingegen ist das Wählen zwischen verschiedenen Optionen. Letzteres bezeichne ich als robust gegenüber kontrafaktischen Szenarien – mit anderen Worten: den Bedingungen, die die Hintergrundbedingungen der Wahlmöglichkeit berücksichtigen. Wenn Sie beispielsweise Angst haben, hungrig sind oder unter Zwang stehen, können Sie zwar immer noch Entscheidungen treffen, aber es handelt sich nicht um authentische Entscheidungen. Ich unterscheide also zwischen Wahl und Handlungsfähigkeit, weil für Freiheit für mich die Freiheit der Handlungsfähigkeit ist, nicht die Freiheit der Wahl.
Ihr Buch »Frei« basiert auf Kindheitserinnerungen im sozialistischen Albanien und in den Jahren der Transformation in den Kapitalismus. Eine davon beschreibt den 11. April 1985, Todestag von Enver Hoxha, dem Gründer der Sozialistischen Volksrepublik Albanien. Sind das Ihre frühesten Erinnerungen?
Ich glaube nicht, dass das meine allererste Erinnerung an sich ist, aber wahrscheinlich ist es meine früheste politische Erinnerung. Ja, denn ich war im Kindergarten und uns wurde erzählt, dass Hoxha gestorben sei und dass dieses ein großer Verlust für das Land und die Nation sei.
Hat der 11. April für Sie heute noch eine Bedeutung?
Um ehrlich zu sein, denke ich nicht wirklich viel darüber nach. Es ist nicht so, dass ich an den 11. April denke, aber natürlich denke ich darüber nach, wie sehr sich Albanien seitdem verändert hat und wie sehr sich die Welt, in der ich als Erwachsene lebe, von der Welt unterscheidet, in der ich als Kind gelebt habe.
Aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien wird berichtet, dass Jahre nach den Staatszerfallskriegen sowohl ältere als auch junge Menschen, die Jugoslawien selbst nicht mehr erlebten, ein positives, sentimentales Bild von Jugoslawien haben. Stichwort »Jugo-Nostalgie«. Gibt es dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Albanien etwas Vergleichbares?
Nein, das würde ich nicht sagen. Der albanische Sozialismus unterschied sich stark vom jugoslawischen Sozialismus. Albanien war sehr isoliert, die Jugoslaw*innen hingegen konnten frei reisen, hatten Zugang zu anderen Ländern und anderen Kulturen. Es gab viel Toleranz gegenüber unterschiedlicher Musik, allgemein ein relativ hohes Maß an Toleranz gegenüber Andersartigem. Der albanische Sozialismus hingegen war sehr restriktiv. Es war ein ausgesprochen paranoides, isoliertes Regime, das seine Bürger*innen sehr hart behandelte. Ich glaube nicht, dass man im heutigen Albanien besonders viel Nostalgie bezüglich der Zeit von Hoxha finden wird. Ich meine, Menschen sind immer nostalgisch, wenn es um ihre Jugend geht, aber es ist eine Nostalgie gegenüber ihrem früheren Ich. Das wird auch den Menschen, die jetzt alt sind und in ihrer Jugend beim Aufbau des Sozialismus eine Rolle gespielt haben, so gehen. Aber es ist nicht wirklich Nostalgie gegenüber dem damaligen politischen System, denke ich.
Was war der Grund für den frühen Bruch im Jahr 1948 zwischen Titos Jugoslawien und dem Albanien Enver Hoxhas? Beide Länder haben ja eine ähnliche, miteinander verbundene Geschichte im Partisanenkampf gegen dieselben Besatzungsmächte.
Ich denke, es war Nationalismus. Das liegt daran, dass der albanische Staat erst relativ kurze Zeit vor diesem Bruch entstand: Albanien wurde 1912 gegründet. Von Anfang an ging es um das Überleben des Staates, um die Sicherung seiner territorialen Integrität, was die ersten Phasen der Konsolidierung Albaniens begleitete. Und als die kommunistische Regierung an die Macht kam, musste sie diese Rolle der Sicherung der territorialen Integrität aufgrund von Grenzstreitigkeiten und Fragen der Umsiedlung von Minderheiten fortsetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg dominierten die Probleme des Nationalismus die kommunistische Politik. Und ich denke, die Spaltung von Jugoslawien war auch ein Ausdruck davon.
Die historische Figur Enver Hoxha taucht auch in Ihrem neuen Buch »Aufrecht« auf. Sie beschreiben dort den jungen Hoxha als Draufgänger, der als Student seiner Vermieterin keine Miete zahlte und sich durch einen Sprung aus dem Fenster der Zahlungspflicht entzog – ganz ohne moralische Skrupel. War in diesem Verhalten sein späterer Werdegang schon erkennbar?
Das ist eine schwierige Frage. Eine der Herausforderungen bei der Zeichnung der Figur Hoxha bestand darin, nicht sein jüngeres Ich abzuleiten aus Informationen, die wir über sein älteres Ich haben. Ich denke, man kann meinen Beschreibungen des jungen Hoxha entnehmen, dass er jemand war, der nicht an formale Strukturen der repräsentativen Demokratie und des Liberalismus glaubte. Er war ein klassischer Fall von jemandem, der eher an Revolution dachte als an Reformen für den Weg in die Zukunft. Und er dachte auch so auch unter den Bedingungen des kommunistischen Albaniens, das ja nicht wirklich kommunistisch war, sondern – wie das Vorkriegsalbanien – ein sehr rurales Land, mit einer niedrigen Alphabetisierungsrate, ohne eine entwickelte Öffentlichkeit, eine entwickelte Zivilgesellschaft. Für mich ist der Erfolg von Enver Hoxha eine Kombination aus seiner besonderen Art, über sozialen Wandel und über die Bedingungen eines kommunistischen Albaniens vor und unmittelbar nach dem Krieg nachzudenken.
Ihr Großvater Asllan Ypi und Hoxha waren Schulfreunde und auf unterschiedliche Weise antifaschistische Oppositionelle gewesen. Nach der Befreiung vom Faschismus besaßen sie verschiedene Vorstellung von einer sozialistischen Zukunft. Was waren die Unterschiede?
Mein Großvater war ein klassischer Sozialdemokrat in dem Sinne, wie wir die Sozialdemokratie in ihren Anfängen verstehen würden: Die Kritik am Kapitalismus war eines der Grundprinzipien der klassischen Sozialdemokratie. Er befürwortete die Überwindung des Kapitalismus, jedoch durch Reformen und den Weg zur Macht über Wahlen. Er war also gegen eine Revolution, wie auch aus meinem Buch hervorgeht. Aber ich denke, dass seine Ansichten, diese klassischen sozialdemokratischen Ansichten, die sich stark von den Ansichten der heutigen Sozialdemokratie unterscheiden, sein ganzes Leben lang unverändert blieben. Er war gegen die Konzentration von Reichtum und Macht.
Am Flughafen von Tirana liegen Ihre Bücher in deutscher und englischer Sprache prominent im Buchladen aus. Denken Sie, dass es einen Zusammenhang zwischen der Popularität Ihrer Bücher und der Entdeckung Albaniens als Reiseland durch junge westeuropäische Touristinnen und Touristen gibt?
Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Es könnte auch umgekehrt sein: Menschen reisen als Tourist*innen nach Albanien und entdecken dort meine Bücher über das Land. Ich hoffe also, dass der Austausch in beiden Richtungen funktioniert.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195604.geschichte-des-sozialismus-diversitaet-der-freiheit.html