Moderne Medizin ist ohne Medikamente schwer vorstellbar. Bezahlbare Pillen und damit quasi Gesundheit für viele, ist einer der Hebel, den die pharmazeutische Industrie insbesondere bei Preisverhandlungen nutzen kann. Das System der gesetzlichen Versicherung (GKV) schien über lange Zeit der Garant dafür, dass alle Wirkstoffe für alle Versicherten verfügbar sind. Aber damit könnte es bald vorbei sein.
Denn der Pharmamarkt hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter ausdifferenziert. Viele Wirkstoffe sind als preiswerte Generika verfügbar. Aber ihr Anteil an den Kassenausgaben geht zurück zugunsten innovativer Mittel,[1] die noch patentgeschützt sind. Allein Arzneimittel gegen Krebs und seltene Krankheiten machen mit 18 Milliarden Euro knapp ein Drittel der gesamten GKV-Medikamentenausgaben aus, obwohl sie nur knapp 1,3 Prozent aller Verordnungen umfassen. Auch nach den Packungspreisen je Arzneimittel lässt sich das Problem darstellen: Im Juli 2014 lag der Durchschnittspreis für Arzneimittel, die in den 36 Monaten davor auf den Markt kamen, bei 2989 Euro. Im Juli 2025 waren es schon 51 639 Euro, fast zwanzigmal so viel.
Arzneimittel sind der zweitgrößte Kostenblock für die Kassen.
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Im ersten Halbjahr fielen 29 Milliarden Euro für alle Arzneimittelausgaben der GKV an, sechs Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2024. Nach den Krankenhäusern sind Arzneimittel der zweitgrößte Kostenblock für die gesetzlichen Kassen.
Als Paradebeispiel kann das Medikament Zolgensma dienen, das 2019 auf den Markt kam. Mit dem Gentherapeutikum wird die spinale Muskelatrophie (SMA) bei Kleinkindern behandelt. Bei Markteinführung in Deutschland kostete die Einzeldosis über zwei Millionen Euro. Damit galt Zolgensma, von dem nur eine Dosis nötig ist, um die Kinder vor der Krankheit zu bewahren, als das teuerste Medikament der Welt. Aufgrund von Atemproblemen sterben die meisten unbehandelten Patienten im Alter von zwei Jahren.
Der Hersteller Novartis erreichte bis Januar 2024 die Zulassung in 51 Ländern. 3700 Kinder konnten bis dahin behandelt werden. In Deutschland ist Zolgensma seit Juli 2020 verschreibungsfähig, schon nach einem Jahr wurde ein Gesamtumsatz von 50 Millionen Euro erreicht. Mit diesem Medikament sind wir im Wirkungsbereich des Amnog, des »Arzneimittelmarktneuordnunggesetzes« von 2011. Es reguliert die Preisbildung innovativer Arzneimittel hierzulande. Vorgeschrieben ist demnach eine Nutzenbewertung. Bei dieser wird der Zusatznutzen eines neuen Wirkstoffes gegenüber der Standardtherapie bewertet – und auf dieser Basis soll ein fairer Erstattungsbetrag gefunden werden.
Zolgensma zählte auch zu den Orphan Drugs[2], also zu Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen. Für sie gilt ein Zusatznutzen als gesetzt, die Hersteller müssen nicht die üblichen Studien durchführen – auch weil es zu wenige potenzielle Probanden dafür gibt. Jedoch fiel Zolgensma bei der späteren Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses für das Gesundheitswesen 2021 durch: kein Zusatznutzen gegenüber dem auf Dauer zu verabreichenden Wirkstoff Nusinersen mit Jahrestherapiekosten von rund 300 000 Euro. Entsprechend darf Zolgensma in Deutschland nicht mehr zum genannten Einstiegspreis verordnet werden, immerhin eine Entlastung für die Kassen.
Zolgensma ist aber keine Ausnahme. Diverse Gentherapeutika mit Zulassung durch die US-Behörde FDA sind dort mit Preisen zwischen zwei und vier Millionen Dollar gelistet. Die Zulassung durch die europäische Behörde EMA ist oft nur eine Frage der Zeit, worauf recht schnell die Verfügbarkeit auch in Deutschland folgt – im Schnitt 52 in Tagen, ein Rekordwert in Europa, gut für Patienten, aber finanziell zunehmend riskant für die Kassen.
Kassen und Pharmahersteller selbst fordern jetzt jedoch, das Amnog erneut anzufassen. In diesem Jahr wurde bereits die genannte Umsatzschwelle für die Orphan Drugs auf 30 Millionen Euro abgesenkt. Schon das könnte zur Stabilisierung der GKV-Finanzen beitragen.
Vorschläge zum Umgang mit den teuren Innovationen liefert ein Gutachten des Sachverständigenrates für Gesundheit und Pflege vom Mai. Weil mit noch mehr teuren Arzneimitteln für mehr Patienten zu rechnen sei, soll die bisherige Systematik der Bewertung und Bepreisung geändert werden – sonst wäre das Gesundheitssystem bald überfordert. In den Fokus sollte der Mehrwert für Patienten genommen werden, ab der ersten Nutzenbewertung über den gesamten Lebenszyklus eines Arzneimittels. Zu stärken wäre die Verhandlungsposition des GKV-Spitzenverbandes. Der kann nämlich bisher nicht einfach von Verhandlungen zurücktreten, wenn ein Preis zu hoch erscheint. Hingegen kann ein Hersteller, wenn aus seiner Sicht die Bedingungen nicht stimmen, sein Produkt einfach vom Markt zurückziehen.
Zu den Vorschlägen des Rates, der übrigens von der Bundesregierung selbst eingesetzt wird, gehört auch, endlich den für Anbieter frei wählbaren Initialpreis für die ersten sechs Monate nach Markteintritt abzuschaffen. Alternativ müsste von Anfang an über den Preis verhandelt werden. Der Rat empfiehlt weiterhin, das Privileg des fiktiven Zusatznutzens für die Orphan Drugs abzuschaffen und auch diese regulär auf ihren Patientennutzen zu prüfen. Eine noch radikalere Lösung wäre die Einführung eines Budgetdeckels für alle GKV-Arzneimittelausgaben pro Jahr. Wie jedoch bei Erreichen dieser Obergrenze mit der weiteren Versorgung bis Jahresende umgegangen werden könnte, ist aktuell nicht klar.
Die Frage ist jedoch, ob die jetzige Bundesregierung hier überhaupt Handlungsbedarf sieht. Im 2014 installierten Pharmadialog, der in der vergangenen Woche in eine neue Runde ging, wurden aktuell etwa Lieferengpässe und eine Abwasserrichtlinie thematisiert, von deren Anforderungen sich die Industrie bedroht sieht.[3] Im Rahmen des Dialogs soll ab Ende November als eines von sechs Themen auch Preisbildung und die Erstattung neuer Arzneimittel diskutiert werden. Daraus wird eine Pharmastrategie ab 2026 abgeleitet, die relativ sicher industriefreundlich ausfällt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195608.arzneimittel-pharma-am-laengeren-hebel.html