nd-aktuell.de / 20.11.2025 / Kultur

Das Trauma bleibt

»Nobody’s Girl«: die Geschichte der Virginia Louise Roberts Giuffre, Opfer sexuellen Missbrauchs und Hauptanklägerin im Epstein-Prozess

Karlen Vesper
Virginia Giuffre mit einem Bild von ihrem früheren Selbst
Virginia Giuffre mit einem Bild von ihrem früheren Selbst

Stellen Sie sich ein Mädchen vor, das mit tränenüberströmtem Gesicht allein auf einem Bordstein sitzt. Das Mädchen ist 15 Jahre alt, aber so dünn, dass sie jünger wirkt. Eigentlich ist sie hübsch, mit blauen Augen und langen blonden Haaren. Aber ihr sommersprossiges Gesicht ist geschwollen, ihre Kehle schmerzt und in ihrem Mund hat sie einen Geschmack, den sie nie vergessen wird: Waffenstahl. Sie blutet an Stellen, von denen sie nicht einmal wusste, dass man dort bluten kann. Wehgetan hat man ihr früher schon, aber so noch nie.«

Virginia Louise Roberts Giuffre spricht ihre Leser direkt an. Seit frühester Kindheit ist sie von Männern sexuell missbraucht worden. Es interessierte niemanden. Jedenfalls nicht wirklich. Die hier zitierte Stelle aus ihren, an diesem Mittwoch auch auf Deutsch erschienenen Memoiren schildert eine Situation von so vielen dergleichen in ihrem leidvollen Leben, das viel zu früh endete. Am 25. April dieses Jahres beging sie in Australien Suizid. Zu groß war wohl der Druck, die Last, der Schmerz, waren die Verleumdungen und Verdächtigungen übelster Art, die Drohungen, die sie erhielt, um sie zum Schweigen zu bringen sowie neue Gewalterfahrungen. Virginia war die wichtigste Zeugin und Hauptanklägerin im Prozess gegen den US-Investmentbanker und Sexualstraftäter Jeffrey Epstein.

»Ich glaube, dass wir eines Tages in einer besseren Welt leben können.«

-

Es ist gut, dass Virginia ihre Geschichte Amy Wallace, ihrer Pressereferentin, in den letzten Jahren frank und frei erzählt hat. Manche Passagen sind schwer zu ertragen. Die Details der Gewalt, der Grausamkeiten, die ihr angetan wurden, erschütternd und kaum fassbar. Mitunter musste die Arbeit an diesem Buch unterbrochen werden. Virginia zog sich zurück und meldete sich dann doch wieder bei ihrer Ko-Autorin. »Sie erklärte mir von Anfang an, dass sie davon überzeugt sei, anderen Menschen mit ihrer Geschichte helfen zu können. Und zwar nicht nur den Opfern von Epsteins Grausamkeiten, sondern allen Menschen, egal welchen Geschlechts, die jemals gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen worden sind«, schreibt Amy Wallace in ihren Vorbemerkungen. »Sie wollte, dass die Welt erfährt, wer sie wirklich ist, damit Überlebende sexuellen Missbrauchs sich durch ihre Worte vielleicht weniger allein fühlen.«

Der ältere Mann, der sie nach ihrer Flucht aus einem Heim für sogenannte gefallene Mädchen aufpickt, ist freundlich, gibt vor, ihr zu helfen und fährt mit ihr in ein schäbiges Motel. »Komm mit mir nach oben. Es dauert nur eine Sekunde.« Virginia folgte ihm vertrauensselig in ein schmuddeliges, heruntergekommenes Zimmer. »Er fiel sofort über mich her, und mir wurde klar, dass ich seine Kraft unterschätzt hatte. Er zwang mich auf das Bett und hielt mich dort fest, eine Hand um meinen Hals. Dann zog er eine Waffe und steckte mir die Mündung in den Mund. Er vergewaltigte mich zuerst von vorne und dann von hinten.«

Es scheint, als hätte Virginia zunächst eine schöne Kindheit im kalifornischen Sacramento, wo sie am 9. August 1983 das Licht der Welt erblickte. Umgeben von Hunden, Ziegen und Hühnern. Sie will Tierärztin werden, liest gern. Bald schon enden die Träume, die Mutter spannt sie im Haushalt ein, gleich einer Magd. Als Virginia sich beschwert, dass ihre Brüder rumtollen können und machen dürfen, was sie wollen, belehrt diese sie: Mädchen müssten andere Dinge lernen als Jungen. »Eines Tages wirst du heiraten«, sagt die Mutter. »Und dann musst du das alles für deinen Mann machen.« Eines Tages vergeht sich ihr Vater erstmals an ihr. Sie ist erst elf. Es ist ihr peinlich. »Er erzählte mir, ich sei sein geliebtes kleines Mädchen, sein Liebling, und er zeige mir auf diese Weise, dass er mich ›ganz besonders lieb‹ habe. Erst berührte er mich dabei mit den Fingern, Tage später dann auch mit dem Mund. Meinen Intimbereich nannte er meine ›Tee-tee‹, seinen Penis seinen ›Pee-pee‹«. Virginia wundert sich, dass sich ihre Mutter plötzlich kühl und distanziert zu ihr verhält. Die Eltern lassen sich alsbald scheiden.

Der Missbrauch geht weiter, durch Männer im familiären Umfeld und durch Jugendliche, nur ein paar Jahre älter als sie. Schließlich landet Virginia im Heim »Growing Together«. Das den hier »abgegebenen« jungen Mädchen versprochene friedliche gemeinsame Aufwachsen entpuppt sich als Lüge. Zwar kann Virginia erstmals über ihre schmerzhaften Erlebnisse sprechen, »das entfernte ein paar Schuppen aus dem Schutzpanzer, den ich mir angelegt hatte« – doch das Heim ist eher ein »Suffering Together« (Gemeinsam leiden). Die Kinder sind »Schlägen, Fixierungen, Freiheitsentzug und systematischen Demütigungen« hilflos ausgesetzt. Kein Wunder, dass Virginia türmt. Sie kommt vom Regen in die Traufe.

Nach Jahren auf der Straße wohnt sie wieder bei ihrem Vater, Angestellter in der Hausverwaltung der Hotelanlage Mar-a-Largo des späteren US-Präsidenten Donald Trump in Palm Beach, wo Virginia einen Job im »Wellnessbereich« annimmt. Dort wird sie 1998 von Ghislaine Maxwell angesprochen, jener Frau, die Epstein und dessen perversen Freunden, darunter dem (inzwischen) Ex-Royal Andrew, Bruder von King Charles III., minderjährige Frauen als Sexobjekt zuspielt. Die skrupellose Zuhälterin ist vor zwei Jahren, vor allem dank Virginia, die es als Erste wagte, gegen den Pornoring der Multimillionäre und Milliardäre auszusagen.

Ihre Memoiren beginnen mit einem Besuch des Louvre, im Juni 2021. Sie ist in die französische Hauptstadt gereist, um gegen einen Epstein-Komplizen auszusagen, den Model-Agenten Jean-Luc Brunel. Acht Stunden lang wird sie ihm bei einer Anhörung gegenüber sitzen und »die unmenschlichsten Fragen über mich ergehen lassen, die man sich vorstellen kann«. Wenige Tage zuvor hat sie den Louvre aufgesucht, um Entspannung zu finden. Das Gegenteil geschieht. Plötzlich steht sie in einem blutroten Raum, dem ehemaligen Schlafgemach Ludwig XVI. »›Ich kenne diesen Raum!‹, schrie eine Stimme in meinem Kopf. Ich war schon einmal hier gewesen, 20 Jahre zuvor, als ich gerade einmal 17 Jahre alt war.« 2001 hatten Epstein und Maxwell sie mit in den Pariser Musentempel genommen. Das blutrote Zimmer weckt böse Erinnerungen an »G-Max«, wie sich die Epstein-Vertraute selbst bezeichnete, eine »Kinderschänderin mit vornehmen Manieren«, in deren »Haus der Schande« Virginia 25 Monate festgehalten worden ist. »Auch jetzt, Jahrzehnte später, spüre ich die Furcht vor ihnen noch in jeder Faser meines Körpers. Es rauscht in meinen Ohren. Rein rational weiß ich, dass die beiden mir nichts mehr anhaben können.« Doch das Trauma bleibt.

»Nobody’s Girl« sind die Memoiren der Virginia Louise Roberts Giuffre überschrieben. Ein Bekenntnis. Ihr Vermächtnis. Ihre Botschaft an alle Frauen und jungen Mädchen weltweit. Sie gehören niemandem. Und sie sollen niemandem gehorchen. Dank Virginias mutigem Schritt können die Epstein-Akten auch nicht länger unter Verschluss gehalten werden. Widerwillig unterschrieb US-Präsident Donald Trump diese Woche das diesbezügliche, vom Senat und Repräsentantenhaus verabschiedete Gesetz.

Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass aisgerechnet diese Woche eine Studie publiziert wurde, die enthüllt, dass auch in Deutschland alle zwei Sekunden Frauen gedemütigt, geschlagen, belästigt, vergewaltigt werden und alle zwei Tage eine Frau gar ermordet wird.

»Ich sehne mich nach einer Welt, in der die Missbrauchstäter mehr geächtet werden als ihre Opfer«, schreibt Virginia. Und: »Ich glaube, dass wir eines Tages in dieser besseren Welt leben können.«

Virginia Louise Roberts Giuffre: Nobody's Girl. Meine Geschichte von Missbrauch und dem Kampf um Gerechtigkeit. Yes Publishing, 400 S., geb. 26 €.

.