Dordrecht ist eine Stadt in der niederländischen Provinz Zuid-Holland. Sie liegt etwa 20 Kilometer südöstlich von Rotterdam. Mit der Bahn gelangt man in nur 15 Minuten von Rotterdam nach Dordrecht. Wer Zeit hat, fährt mit dem Wasserbus. Die Fahrt beginnt mit dem Blick auf die Skyline von Rotterdam, gegenüber von dem vom Office for Metropolitan Architecture entworfenen größten Gebäude der Niederlande – De Rotterdam. Die Landschaft entlang der Wasserbus-Route zwischen Rotterdam und Dordrecht ist geprägt von industriellen Hafenanlagen, die sich mit vereinzelter Wohnbebauung abwechseln.
Eine der Sehenswürdigkeiten Dordrechts ist das 1729 erbaute am Nieuwe Haven gelegene Huis Van Gijn. Das Haus verdankt seinen Namen Simon van Gijn (1836–1922). Van Gijn kam 1836 in Vlaardingen als Sohn von Cornelia Johanna Hooghwinkel und Dirk de Kater van Hijn zur Welt. Im Jahre 1842 übersiedelte die Familie nach Dordrecht. Dort trat Simons Vater eine Stelle im Bankhaus seines Schwiegervaters an. Nach seinem Jurastudium in Leiden ließ sich Simon van Gijn 1863 als Advokat in Dordrecht nieder, trat aber noch im gleichen Jahr als Bankier die Nachfolge seines Schwiegervaters im familieneigenen Bankhaus an. Im folgenden Jahr ehelichte er Cornelia Agatha Vriesendorp und erwarb das Haus am Nieuwe Haven.
Bereits in jungen Jahren wurde Simon van Gijns historisches Interesse geweckt. Auf Anregung seiner Mutter begann er historische Drucke zu sammeln. Doch er erweiterte seine Interessensgebiete und sammelte Waffen, Schiffsmodelle, Münzen, Silber, Keramik und Interieurs. Van Gijn empfing regelmäßig Historiker und andere Interessenten, die sich mit Fragen zu seinen Drucken an ihn wandten. 1889 starb van Gijns Frau, und 1892 schied er aus der Bank aus. Fortan konzentrierte er sich auf die Inventarisierung und Beschreibung seiner in die Tausende gehenden Drucke, Zeichnungen und Fotos. Zwischen 1886 und 1889 war das Haus umgebaut worden. Van Gijn vermachte es vor seinem Tod im Jahre 1922 der Vereniging Oud-Dordrecht mit der Auflage, die Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich und das Haus zum Museum zu machen, dabei aber die Innenausstattung möglichst im Original zu erhalten. 1925 öffnete das Haus seine Pforten für die Öffentlichkeit. Vieles der ursprünglichen Innenausstattung ist erhalten geblieben. Und dank vorhandener Reste von Textilien, Innenaufnahmen aus der Zeit um 1900 sowie Aufzeichnungen aus van Gijns Feder konnte die Originaleinrichtung rekonstruiert werden. Das Haus, so gestaltet, dass es scheint, als sei die Zeit stehen geblieben, erstreckt sich über drei Etagen, wobei in der obersten Etage das älteste Spielzeugmuseum der Niederlande seinen Platz fand. Das Spielzeug wurde seit dem Jahre 1895 vom Heimatverein Vereniging Oud-Dordrecht zusammengetragen.
Der Rundgang beginnt in der seit 1729 nicht wesentlich veränderten Küche mit einem aus Stein gemauerten Herd sowie einem gusseisernen Kohleofen aus dem 19. Jahrhundert. Auf dem Herd wurden nicht nur die Mahlzeiten zubereitet, er lieferte zudem warmes Wasser sowie glühende Kohlen für Stövchen, Bügeleisen und Bettpfannen. Die eher schmutzigen Arbeiten fanden in der benachbarten Spül- und Waschküche statt.
Im Gang stehen die Besucherinnen und Besucher direkt und unmittelbar vor den Sammlungsstücken des Hausherrn, wobei van Gijns Verehrung des Königshauses der Oranier und der Geschichte der Niederlande unübersehbar ist. Der Saal auf dieser Etage ist im Stile des späten Ludwig XIV. holzverschalt und mit kostbaren Wandteppichen aus dem flämischen Oudenaarde versehen. Die Gemälde über dem Kaminmantel und den Türen entstanden 1730 von der Hand des Dordrechter Malers Adriaen van der Burgh (1693–1733). Der Saal diente seit 1730 als Ort für Empfänge und Gesellschaften. Ihm gegenüber befindet sich der in weinrot und altrosa gehaltene Vriesendorp-Salon, in dem Frau van Gijn-Vriesendrop ihre Gäste empfing und mit anderen Damen ihren Tee nahm. Ein Jünger des Weingottes Bacchus prangt an der Decke des Speisezimmers, während an den Wänden Bauern, Jäger und Fischer zu sehen sind, gemalt von Willy Martens (1856–1927) im Jahre 1887. Die im holländischen Renaissancestil gefertigte Einrichtung basiert auf Vorbildern des 17. Jahrhunderts. Gespeist wurde im Lichte von Kerzen oder einer Öllampe. Das Gartenzimmer mit einer Glasveranda, die im Sommer wohl eine zum Garten hin offene Veranda war, diente als Wohnraum. Ein im Garten vorhandenes Gartenhaus wurde in den 1930er Jahren abgerissen, 2004 allerdings anhand einer Fotografie aus dem Jahr 1904 detailgetreu rekonstruiert.
Im Treppenhaus findet sich ein Sammelsurium an Waffen, Helmen und Harnischen sowie einige nordafrikanische Gegenstände, die van Gijn 1893 erwarb. Analog zum Erdgeschoss ist der Gang im ersten Stock als »Museum« eingerichtet. Hier steht ein Schrank, den der Hausherr speziell für seine Druckkollektion anfertigen ließ. Viele der im Gang zu sehenden Exponate sind in van Gijns Notizkladden aufgeführt, in denen er seine Erwerbungen akribisch erfasste. Im Grünen Schlafzimmer nächtigte van Gijn nach dem Tod seiner Frau. Ein Invalidenstuhl erinnert daran, dass van Gijn in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr gut zu Fuß war. Das lit d’ange (Engelsbett) sowie eine Pendeluhr stammen aus van Gijns Elternhaus. Seit 1864 war das Velouté-Schlafzimmer das eheliche Schlafgemach. Das daneben gelegene kleine Zimmer diente Frau van Gijn als Ankleideraum. 1882/83 wurde ein Teil dieses Raumes zu einem gefliesten Badezimmer mit einem Warmwasserspeicher um- sowie ein modernes WC eingebaut. Die van Gijns zeigten sich als Vorreiter: Niederländische Herrenhäuser wurden erst um das Jahr 1910 mit Badezimmern ausgestattet.
Das Goldlederzimmer stammt aus dem Haus De Rozijnkorf in Dordrecht und datiert aus dem Jahr 1686. Van Gijn hatte in seinen Notizen ein großes Interesse an diesem Zimmer bekundet. Es wurde 1921 versteigert und galt als verschollen, bis es 1992 wiederentdeckt wurde. Van Gijns Bibliothek mit einer Fülle seltener alter Werke sowie das angrenzende Studierzimmer waren die von van Gijn meistgenutzten Räume. Sie wurden in den Jahren 1886 bis 1889 nach einem Entwurf des Architekten Constantin Muysken (1843–1922) im holländischen Renaissancestil eingerichtet. Am Ende seines Lebens besaß Simon van Gijn rund 25 000 Drucke, Zeichnungen und Fotos, die einen sogenannten »historischen Atlas« bilden. Seine Blätter ordnete der Sammler nach Kategorien wie »historische Drucke«, »Sitten und Gebräuche« sowie »Porträts«.
Die zweite Etage war ursprünglich ein offener Raum, von dem zwei Schlafräume für das Dienstpersonal abgetrennt waren. In dem wenig repräsentativen, im Gegensatz zu den von Van-Gijn-Räumen aber hellen Mangel-Raum wurde Wäsche getrocknet, gemangelt und zusammengelegt. Die Mangel- und sonstigen Wasch- und Trockenutensilien sind erhalten geblieben.
In der Begründung der Verleihung des Museumspreises des Prinz-Bernhard-Kulturfonds an das Huis Van Gijn im Jahre 2004 hieß es: »Das Museum bietet einen hervorragenden Einblick in das Leben, die Sammelleidenschaft, den Haushalt, das Alter, die Philosophie und das Umfeld eines wohlhabenden Dordrechter Einwohners.«
Huis Van Gijn, Nieuwe Haven 29, Dordrecht, Niederlande; www.huisvangijn.nl