nd-aktuell.de / 24.11.2025 / Kultur

Telegram: Ein Messenger wie ein Messer

Eine Arte-Doku erkundet »Telegram – Das dunkle Imperium von Pawel Durow«

Jan Freitag
Pavel Durow sorgt dafür, dass auch Pädophile und Rassisten sich mal richtig ausquatschen können.
Pavel Durow sorgt dafür, dass auch Pädophile und Rassisten sich mal richtig ausquatschen können.

Tech-Milliardäre gönnen sich gerne exklusives Spielzeug. Marsmissionen zum Beispiel, US-Präsidenten, Kryptowährungen und seit Neuestem, für Normalsterbliche so unerreichbar wie unerschwinglich: Longevity. So heißt das Selbstoptimierungskonzept superreicher, meist männlicher Menschen, mithilfe biomedizinischer Prozesse länger zu leben. Peter Thiel und Jeff Bezos investieren dafür Unsummen in gentherapeutische Start-ups. Pawel Durow bevorzugt klassische Methoden.

Disziplin, Ernährung, Askese, Sport: Dieses pausenlose Trainingsprogramm hat seine gelebten 41 Jahre äußerlich auf gut die Hälfte reduziert. Damit wäre das russische Mathe- und Marketinggenie nur unwesentlich älter als sein wichtigstes Selbstoptimierungskonzept: Telegram. Ein weltumspannender Messenger-Dienst, der fast so gut in Form ist wie dessen Erfinder. Vor allem aber: ähnlich dubios. Und beides fasziniert seinen Landsmann Aleksandr Urzhanov.

In einem Pariser Luxushotel arbeitet Pawel Durow am Ende aller Medien.

Zwei Jahrzehnte beobachtet der Investigativ-Journalist den steilen Aufstieg eines St. Petersburger Elitestudenten in die Broconomy genannte Aristokratie mächtiger Digitalunternehmer. Gemeinsam mit Regisseur Igor Sadreev hat der Exil-Berliner seine Recherchen jetzt zu einer Doku verdichtet. Und schon der Titel deutet an, dass es keine Lobeshymne geworden ist: »Das dunkle Imperium von Pawel Durow«. Wie dunkel, wie imperial – das fragt die Arte-Fassung heute auf 90 Minuten. Und vorweg: Einfache Antworten gibt es nicht.

Zur Erkennungsmelodie der brachialen Kapitalismus-Schelte »Succession« beginnt die Reise mit ihrem (vorläufigen) Ende: Am 24. August 2024 steigt Durow in Paris aus seinem Privatjet und wird festgenommen. Der Vorwurf lautet: Drogenhandel, Hassverbrechen, Kindesmissbrauch. Wenngleich nicht eigenhändig, sondern durch Unterlassen entsprechender Schutzvorrichtungen für weltweit angeblich eine Milliarde Telegram-Nutzer.

Seit seiner (vorläufigen) Freilassung residiert der russische Staatsbürger mit französischem Pass in einem Pariser Luxushotel für angeblich 25 000 Euro pro Nacht. Und von dort aus arbeitet er nicht nur an seiner physischen Unvergänglichkeit. Es geht ihm auch um sein Kernanliegen: die »Beseitigung der Informationsasymmetrie«, wie es ein Biograf in der Sendung beschreibt. Genauer: das Ende klassischer Medien als Gatekeeper der gesellschaftlichen Kommunikation zum Wohle informationeller Eigenverantwortung.

Und hier wird es kompliziert. Denn Durow mag seine Unternehmen, die teilweise mit dem Geld organisierter Banden aufgebaut wurden, nach Gutsherrenart führen – ohne Regeln, Betriebsräte, Transparenz und Belegschaft. Er weigert sich nachweislich, seinen Messenger auch nur ansatzweise gegen Radikale, Pädophile, Gesetzlose abzusichern und vergleicht das 30-köpfige Ingenieur-Team beim Interview mit dem rechtsradikalen Trump-Fan Tucker Carlson mit den »Navy Seals«. Mehr noch!

Geld verdient Durow fast nur mit nebulösen Krypto- oder Blockchain-Deals. Und das, nach Stress mit der amerikanischen Börsenaufsicht, mittlerweile vom autokratischen Zockerparadies Dubai aus, wo ihn das Bundesjustizministerium wegen zahlloser Verstöße gegen das Netzwerkdurchsuchungsgesetz seit Jahren vergeblich haftbar machen möchte. Nahezu alles am Gebaren des Vaters von angeblich 100 Kindern ähnelt daher dem ruchlosen Turbokapitalismus von Elon Musk bis Mark Zuckerberg.

Mit einer Ausnahme: Der einzige Europäer im Kreis US-amerikanischer Tech-Narzissten hält sich bis heute relativ glaubhaft fern vom Sumpf geschmeidiger Autokraten-Kuschler à la Bezos und Thiel. Seine Weigerung, sich irgendeiner anderen Macht als der eigenen unterzuordnen, wirkt demnach einigermaßen authentisch. Dass Verschwörungsideologen und Antifaschisten, der IS und die Linke, Reichsbürger und Demokraten, Putins Propagandisten und Selenskyjs Freiheitskämpfer gleichberechtigt auf Telegram kommunizieren, scheint das eher zu be- als widerlegen.

Immerhin, so lehrt uns die Doku, hat Pawel Durow sein russisches Facebook VK nach der Krim-Invasion verkauft und mit kolportierten 300 Millionen Dollar Erlös das staatsferne Telegram aufgebaut. Die geflohene Online-Reporterin Galina Timchenko vergleicht den Messenger deshalb mit einem Küchenmesser. Man könne damit »Brot schneiden oder jemanden erstechen«. Pawel Durow macht beides, ohne selbst Hand anzulegen. Noch.

Dienstag, 21.50 Uhr, Arte