Freudensprünge. Das war ihre Reaktion auf den Anruf des Bundestrainers, erzählt Aimeé von Pereira. Die 25-jährige hat im März im Nationalteam[1] debütiert, seitdem acht Länderspiele absolviert – und sich mit ihrer selbstbewussten Organisation im Zentrum der deutschen Abwehr noch einen Platz im Kader für die Weltmeisterschaft im eigenen Land erspielt. »Das ist eines der größten Ereignisse in der Karriere«, jubelt die Handballerin aus Hamburg.
Das Großevent, das der Deutsche Handballbund (DHB) gemeinsam mit den Niederlanden ausrichtet, startet für das Team von Bundestrainer Markus Gaugisch an diesem Mittwoch in Stuttgart gegen die Isländerinnen, die weiteren Vorrundengegner sind Uruguay und Serbien. Eine Medaille ist das von DHB-Präsident Andreas Michelmann ausgegebene Ziel, es wäre die erste seit WM-Bronze 2007. Doch tatsächlich geht es um mehr: Um die Zukunft des Handballs[2] der Frauen in Deutschland.
Diese WM ist für den DHB ein Höhepunkt im ausgerufenen »Jahrzehnt des Handballs«. Nach der im eigenen Land 2023 gewonnenen Junioren-WM[3] steigerte die Männer-EM Anfang 2024[4] die Aufmerksamkeit für die Sportart enorm. Wiederholen soll sich das als Gastgeber der WM 2027, die 20 Jahre nach dem sensationellen Titelgewinn beim »Wintermärchen« endlich den vierten WM-Triumph bringen soll.
Ob das Turnier der Frauen[5] tatsächlich einen nachhaltigen Aufschwung und viele Mädchen zum Handball bringen wird, ist jedoch zu bezweifeln. Schon vor Anpfiff steht nämlich fest, dass die TV-Quoten das Niveau der Männer nicht erreichen werden. Denn im frei empfangbaren Fernsehen werden die deutschen Handballerinnen live nicht zu sehen sein, lediglich zeitversetzt bei Eurosport. Die Plattform sporteurope.tv, ein Bezahlsender, hat sich die Exklusivrechte für das Turnier gesichert. Erst wenn das deutsche Team ins Viertelfinale einzieht, sind ARD und ZDF dabei.
Dass die Öffentlich-Rechtlichen nicht großflächig übertragen, kritisiert DHB-Präsident Michelmann scharf: »Das ist schwach für eine Heim-WM.« Der frühere Oberbürgermeister aus Aschersleben hatte schon vor Jahren moniert, dass die gebührenfinanzierten Sender nicht die ganze Vielfalt des Sports abbilden. »Dafür bin ich damals sehr gerügt worden«, erinnert er sich. »Aber die Wirklichkeit ist, es hat sich seitdem nicht viel getan. Wir haben medial eine Monokultur des Fußballs, und die ist inzwischen ergänzt worden durch den Frauenfußball.«
Tatsächlich hat die Ignoranz gegenüber dem weiblichen Geschlecht Tradition: Als die DHB-Auswahl bei der WM 1993 das letzte Mal einen Titel gewann, war das im deutschen Fernsehen nicht zu sehen. Und inzwischen ist der Handball von den Fußballerinnen medial weit abgehängt worden. Von der Präsenz einer Julia Gwinn in ARD und ZDF können die Handballerinnen nur träumen. »Die Fußballerinnen sind ein Vorbild«, sagt Xenia Smits, die als einzige Deutsche auf Weltklasseniveau spielt.
Die geringe Sichtbarkeit wirkt sich auch strukturell und finanziell aus. Während der Fußball der Frauen im Fahrwasser der Männer-Bundesligisten kontinuierlich wächst, stürzte die Handball-Bundesliga der Frauen im Sommer in eine Krise: Die HB Ludwigsburg, Serienmeister und finanziell stärkster deutscher Klub, musste im Juli Insolvenz anmelden. Nachdem der Mäzen, ein Hemdenfabrikant, die millionenschweren Zuwendungen eingestellt hatte, fanden sich nicht genügend Sponsoren. Mareike Thomaier, Antje Döll, Jenny Behrend und Viola Leuchter, die mit Smits in Ludwigsburg einen Block für das Nationalteam gebildet hatten, mussten sich neue Jobs suchen.
Seitdem bieten nur noch der Thüringer HC und Borussia Dortmund, der als eingetragener Verein von den Mitgliederbeiträgen lebt, den ambitionierten Handballerinnen gute Verdienstmöglichkeiten. Wer kann, verdient sein Geld im Ausland, so wie Smits in Metz, Leuchter bei Odense und von Pereira in Kopenhagen. Einige Gehälter in der Bundesliga, sagen Insider, erreichen, wenn überhaupt, nur Mindestlohn-Niveau.
Zahlungskräftige Sponsoren, die im Handball der Männer Monatsgehälter im fünfstelligen Bereich finanzieren, sind bei den Frauen nicht zu finden. Ein Spitzenklub wie die HSG Blomberg-Lippe ist im Wesentlichen auf das Geld eines Wirtschaftsanwalts angewiesen. Die jährlichen Erlöse aus den Übertragungsrechten, die im unteren sechsstelligen Bereich liegen, machen nur rund zwei Prozent des Männer-Niveaus aus. Equal Pay im deutschen Handball? Davon ist man Äonen entfernt.
Die geringe Aufmerksamkeit geht einher mit fehlender Kontrolle durch die vierte Gewalt, die Medien. So wurden die massiven Vorwürfe des psychischen Missbrauchs gegen einen Spitzentrainer erst im Oktober 2022 publik – nachdem die Nationalspielerinnen Mia Zschocke und Amelie Berger bei Borussia Dortmund fristlos gekündigt hatten. Während der Trainer alles abstritt, meldeten sich mehr als 40 Handballerinnen und berichteten einer vom DHB eingesetzten Kommission von ähnlichen Erlebnissen. Doch der Trainer setzte vor Gericht durch, dass die Kommission nicht über ihn schreiben darf – weil die DHB-Satzung eine solche Kommission nicht vorsah.
Mitte November hat der DHB als einer der ersten Verbände den sogenannten Safe Sport Code in seine Satzung aufgenommen. Funktionäre wie Präsident Michelmann beteuern, sich für Gleichberechtigung einzusetzen. Aber die Spielerinnen, die nach dem Skandal über ihre Traumata berichteten, fühlen sich im Stich gelassen. Sie kritisieren, der Verband berücksichtige ihre Interessen nicht hinreichend.
Diese Zustände werfen auch einen Schatten auf die Imagekampagne des DHB, mit der unter dem Motto »Hands up for more« rund um die WM eine nachhaltige Entwicklung des Handballs der Frauen angestoßen werden soll. Für Kapitänin Antje Doll ist das nicht nur ein Slogan, sondern auch ein »Schrei nach Gleichberechtigung«. Bei der Heim-WM wolle man nun abliefern, »um nachhaltiger auf den deutschen Frauen-Handball aufmerksam zu machen«, sagt ihre Kollegin Smits. Die Zweifel, dass die Tage bis zum Endspiel am 14. Dezember in Rotterdam tatsächlich für die gewünschte Initialzündung sorgen, bleiben.