Seit dem 7. Oktober 2023 hat Deutschland eine weitreichende Repressionskampagne gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung entfesselt, die übliche staatliche Eingriffe in den Schatten stellt. Zu diesem Schluss kommt ein fast 100 Seiten langer Bericht[1], den das niederländische Transnational Institute (TNI) am Mittwoch unter dem Titel »Solidarität unter Beschuss« veröffentlicht hat. Er basiert auf 18 Monaten Recherche und Interviews mit Aktivist*innen. Diese Gewalt werde »verfeinert, institutionalisiert und exportiert«, heißt es in dem Dokument. Deutschland wird deshalb als Laboratorium für die Kriminalisierung der Solidarität mit Palästina bezeichnet.
Zentral für die staatliche Repression ist laut TNI die oft bewusste Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus[2]: Deutschlands historische Verantwortung für den Holocaust werde routinemäßig benutzt, um einen anderen Genozid zu rechtfertigen und diejenigen zu unterdrücken, die versuchen, ihn zu stoppen.
Der Bericht dokumentiert Demonstrationsverbote und Polizeigewalt, Verleumdungskampagnen, kulturelle Veranstaltungsabsagen, Konsequenzen am Arbeitsplatz und die Instrumentalisierung von Migrations- und Asylrecht. Eine ähnliche Dokumentation[3] hatte im Mai dieses Jahres bereits das grenzüberschreitende European Legal Support Center (ELSC) vorgelegt und darin seit 2019 mehr als 700 Vorfälle in Deutschland verzeichnet. Die meisten ereigneten sich nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Angriffs der Hamas und anderer palästinensischer Organisationen auf Israel, und dem daraufhin von der Regierung in Jerusalem begonnenen offenen Gaza-Krieg.
Während in den ersten sechs Wochen nach dem 7. Oktober mindestens 99 Palästina-Solidaritätsproteste verboten wurden, verlegte sich die Polizei in ihrer Reaktion auf die Proteste zunehmend auf Gewalt. TNI zitiert dazu Majed Abusalama, einen Gründer der Solidaritätsorganisation Palestine Speaks: »Wir fühlten uns, als hätten wir es mit Siedlersoldaten, Kolonialsoldaten zu tun, aber in deutschen Kleidern.« Wenn Betroffene gegen die Polizeigewalt gerichtlich vorgingen, erhielten diese oft eine Gegenanzeige.
Als besonders gravierend beschreibt TNI die Instrumentalisierung des Migrationsrechts gegen Protestierende ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Das im Juni 2024 verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz ermöglicht für Einbürgerungsanträge eine »Antisemitismus-Prüfung«[4], die auf der umstrittenen IHRA-Definition basiert und in vielen Fällen ebenfalls Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt. Ein »Like« für einen Social-Media-Post mit dem vor zwei Jahren verbotenen Slogan »From the river to the sea«[5] reiche bereits aus, um die Einbürgerung zu verweigern. Auch Visa-Verlängerungen seien aus ähnlichen Gründen verweigert worden.
Der Bericht dokumentiert den Fall einer palästinensischen Krankenschwester mit jordanischer Staatsangehörigkeit, die seit acht Jahren in Deutschland als dringend benötigte Pflegekraft arbeitet. Ihr einjähriger Sohn sei von den Behörden als »Sicherheitsrisiko« eingestuft worden, nachdem sie einen Antrag auf Daueraufenthalt gestellt hatte. Der angebliche Grund: die Palästina-Aktivitäten der Mutter.
In einem anderen Fall wurden zwei palästinensische Medizinstudenten trotz fehlender krimineller Aktivitäten die Visa-Verlängerungen verweigert. Ihre Beteiligung an PalMed, einem Netzwerk palästinensischer Mediziner*innen, sowie »pro-palästinensische Sympathien« und eine »einseitige, palästinensische Perspektive« seien als ausreichende Gründe für Abschiebeverfahren genannt worden.
Der TNI-Bericht wiederholt auch in Deutschland bereits bekannte Cancel-Fälle[6] aus dem Kulturbereich – etwa der Palästinenserin Adania Shibli, die von der Frankfurker Buchmesse ausgeladen wurde, oder des britischen Künstlers James Bridle, dem ein Architekturpreis entzogen wurde, weil er einen offenen Brief zum Boykott israelischer Kulturinstitutionen unterzeichnet hatte. Auch die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser wurde von einer Gastprofessur in Köln ausgeladen[7], nachdem sie den offenen Brief »Philosophy for Palestine« unterzeichnet hatte. Der israelisch-jüdische Filmemacher Yuval Abraham[8] wurde nach einer kritischen Rede anlässlich seiner Preisverleihung bei der Berlinale öffentlich als Antisemit diffamiert.
Auch am Arbeitsplatz haben Menschen Konsequenzen zu befürchten. Der Fußballprofi Anwar El Ghazi wurde von Mainz 05 gefeuert[9], nachdem er auf Instagram den Slogan »From the river to the sea, Palestine will be free« gepostet hatte. Die Juristin Melanie Schweizer verlor nach einer Kampagne der »Bild«-Zeitung ihre Stelle im Bundesarbeitsministerium. Der IT-Spezialist Ahmad Othman wurde entlassen, weil er sich bei der Palestine Solidarity Initiative Duisburg engagierte – sein Arbeitgeber nannte seine »verfassungsfeindliche Einstellung« als Grund.
Im April 2024 wurde der sogenannte Palästina-Kongress in Berlin gewaltsam aufgelöst, noch bevor er richtig begonnen hatte. Insgesamt 2500 Polizist*innen wurden an dem Wochenende mobilisiert – bei 250 erwarteten Teilnehmer*innen. Die Behörden erließen ein einjähriges Betätigungsverbot gegen wichtige Gäste, darunter der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und Ghassan Abu-Sittah. Der britisch-palästinensische Chirurg hatte erfolgreich gegen die Maßnahme geklagt[10].
Auch die palästinensische Journalistin Hebh Jamal sollte beim Palästina-Kongress sprechen – und ist seitdem Ziel vermehrter Attacken. Die Bundespolizei habe eine Warnung in der größten deutschen Polizeidatenbank über sie erstellt, sodass sie bei jeder Reise Befragungen und Durchsuchungen ausgesetzt sei. Ihre Reaktion: »Ich versuche, das Haus nicht allein zu verlassen, es sei denn, ich treffe jemanden oder gehe irgendwohin. Ich bin einfach viel mehr Islamophobie und Aggression ausgesetzt.«
Selbst jüdische Stimmen, die Israel kritisieren, werden systematisch zum Schweigen gebracht. Die deutsche-israelische Aktivistin Iris Hefets wurde seit Oktober 2023 dreimal in Berlin verhaftet[11], weil sie an friedlichen Demonstrationen für palästinensische Rechte teilnahm. Bei ihrer ersten Verhaftung hielt sie ein Schild mit der Aufschrift: »Als Jüdin und Israeli: Stoppt den Genozid in Gaza«.
Die für die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete zuständige UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese[12] berichtete nach einer Reise im Februar 2025: »In Deutschland nahm ich etwas zutiefst Beunruhigendes wahr – eine Atmosphäre, die an historische Berichte über Faschismus erinnert.« Hintergrund war die brüske Absage ihrer geplanten Vorlesung an der Freien Universität Berlin – nachdem der Bürgermeister, Regierungsvertreter*innen und der israelische Botschafter massiven Druck ausübten. Die Polizei erwog sogar, Albanese zu verhaften.
Auch die Partei Die Linke wird in dem Bericht betrachtet – von ihr kam seit dem 7. Oktober 2023 weitgehend Schweigen zu der staatlichen Repression. Die Parteiführung veröffentlichte vier Tage später eine Erklärung[13], die der Hamas die Schuld an Israels – damals noch nicht begonnenen – Gaza-Krieg und der prognostizierten massenhaften Tötung der Zivilbevölkerung gab. Als die ehemalige Linke-Abgeordnete Sahra Wagenknecht im November 2023 Israels »rücksichtslose Kriegsführung« kritisierte und Gaza als »Freiluftgefängnis« bezeichnete, distanzierte sich der Fraktionsvorsitz im Bundestag »nachdrücklich«.
Im April 2024 weigerte sich der Berliner Landesparteitag, eine Resolution zu verabschieden, die den Polizeieinsatz beim Palästina-Kongress und die gewaltsame Räumung eines Protestcamps vor dem Reichstag verurteilte. Prominente Parteimitglieder wie die ehemaligen Senatoren Klaus Lederer und Elke Breitenbach unterzeichneten sogar einen Aufruf gegen den Kongress.
Erst im Mai 2025, nach den Bundestagswahlen, vollzog die Partei eine leichte Kurskorrektur: Der Parteitag beschloss, die IHRA-Definition von Antisemitismus durch die Jerusalem-Deklaration zu ersetzen[14] – ein Schritt, den die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits 2019 in einem Bericht gefordert hatte. Die Entscheidung stößt in pro-israelischen Kreisen der Linken heute noch auf Widerstand.
Das 1974 in Amsterdam gegründete Transnational Institute verfügt über beträchtliche Erfahrung mit Befreiungsbewegungen und internationalen Protesten – und ihrer staatlichen Unterdrückung. Der Thinktank warnt, dass die in Deutschland an der Palästina-Solidaritätsbewegung getesteten Maßnahmen bald auf andere dissidente Gruppen ausgeweitet werden könnten – von Umweltaktivist*innen bis zu Antimilitarist*innen. TNI verweist auch auf die öffentliche Meinung, die sich seit dem 7. Oktober deutlich gewandelt hat: Der allergrößte Teil der Befragten hält Israels Vorgehen in Gaza für ungerechtfertigt und deutsche Waffenlieferungen für falsch.