In der DDR kannte ihn wohl jeder: den Liedermacher, Philosophen und Historiker Reinhold Andert. Dass an ihn heutzutage nur in Ostdeutschland verwurzelte Medien erinnern, zeigt deren Leser, dass der Beitritt der DDR zur BRD keine »Wiedervereinigung« war. Das Tal der Ahnungslosen ging in einem Land der Ahnungslosen auf. In ihm herrscht seither das große Desinteresse an dem, was in der DDR gedacht, gedichtet, komponiert, gelebt und geliebt wurde.
Anderts musikalisches, belletristisches, zeitgeschichtliches und geschichtswissenschaftliches Werk in einem Nachruf zu würdigen, geziemt sich nicht. Dafür ist es zu vielseitig. Die, die es kennen, wissen es zu schätzen; denen, die es nicht kennen, steht eine wundersame Reise bevor. Das Wertvollste an Schätzen ist doch die Schatzsuche.
Erinnert werden soll darum an den Menschen, der den Schatz für uns vergrub: Seine Lieder vom »Vaterland«, in dem wir selber schaffen können, was wir einmal werden, vom »Mausoleum« und »Treptower Park« gibt es auf Langspielplatten, CDs und sogar »im Einweckglas«. Seine Bücher bleiben erhältlich und berichten vom »Sturz«, schaffen Dienstleistungen wie den »Anpassungs-Fortbildungslehrgang auf freiwillig-demokratischer Grundlage«, halten aber auch »Rote Wenden« für uns bereit und den Sozialismus auf einer Insel (Rügen).
Andert war ein sozialistischer Liedermacher, der die DDR, in der seine »Mutter das Regieren« lernte, als seine Heimat besang. Zugleich aber lernte er ihre Macht der Ausgrenzung kennen: 1980 wurde er im Ergebnis einer Intrige aus der SED ausgeschlossen und in seiner Kunst stark behindert. Dann widerstand er der Verlockung, sich diese Erfahrung im Westen zu versilbern. An Ernst Busch, der in der frühen DDR selbst in Ungnade fiel, aber schwieg, nahm er sich ein Beispiel.
Als die DDR zur »Fußnote« der deutschen Geschichte, gar zum »zweiten totalitären Staat« erklärt wurde, schwieg er nicht mehr. Das Bild, das westdeutsche Autoren über die DDR verbreiteten, um sich die Klassengesellschaft der BRD schönzureden, wollte er geraderücken, ihm die lebendige Wirklichkeit in all ihrer Widersprüchlichkeit entgegenhalten.
Die DDR war 1990 Geschichte. Andert war damals, wie ich heute, 46 Jahre alt. Mancher mauserte sich zum Wendehals. Nicht so Andert. In »Unsere Besten« klärte er die Wessis über die Vor-1989-Biografien von Merkel bis Gauck auf. Zu Sabine Christiansen oder Maybrit Illner eingeladen wird man damit nicht. Aber Andert war schließlich auch nie allein – weder in seiner Familie der Cellisten noch in der Welt da draußen.
Das neue Deutschland war nicht mehr das, »wo die Fabriken uns gehören«. Nach 1990 kriegte sie wieder die Klasse in die Finger, der sie auch vor 1945 gehörten. Aber es blieb doch der Kulturschatz der DDR und es blieben Hunderttausende Sozialisten. Aus einer Welt, in der Kunst und Kultur bei Freund und Feind allerhöchstes Gewicht hatte, kamen sie in den Staat, in denen das nicht der Marx hegelt, sondern der Markt regelt. Aus einem Land, das für sich in Anspruch nahm, an der Arbeit für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung mitzuarbeiten und wo die Künstler den Anspruch erheben durften, dieses Land auch an seinen Ansprüchen zu messen, kamen sie in ein Land, in dem Kunst und Kultur vor Konzernzentrale und Klassengesellschaft betteln. Aber wo der Sinn des Lebens sich in egoistischem Fortkommen erschöpft, da bleibt noch genug Platz für die alte Utopie.
Reinhold Andert kam als Konvertit zum Kommunismus – aus einem »stockkatholischen« Umfeld. Bevor er Liedermacher wurde, war er Orgelbauer. Der Weg erscheint weiter, als er ist. Was ihn für einen Menschen wie Andert verkürzte, ist Herzenswärme, Menschenliebe. Es war Karl Kautsky, der das Kommunistische von Thomas Müntzer und der Wiedertäuferbewegung bis zum Urchristentum zurückverfolgte. Die Entstehung des despektierlichen Begriffs »Herz-Jesu-Sozialist« war eine Zwangsläufigkeit, weil der Traum von der großen Menschengemeinschaft auch in der christlichen Nächstenliebe wurzelt.
Dass Reinhold Andert sich in den letzten Lebensjahren als Historiker auch der Reformationszeit betätigte, ist kein Zufall. In den Bauernkriegen und ihrer Niederschlagung fand er Antworten auf die Frage, warum der erste Versuch scheiterte, in Deutschland eine sozialistische Gemeinwirtschaft aufzubauen.
Der Traum aber blieb bis zum letzten Schlag eines großen weiten Herzens. Am Samstagabend, dem 22. November, um kurz vor 20 Uhr ist Reinhold Andert im Klinikum am Friedrichshain verstorben. Ich trat zum selben Zeitpunkt in den ausverkauften Berliner Dom. Meine Frau Judith Solty sang dort im Rahmen einer Welturaufführung des Komponisten Lyhrus. Es war sein »Requiem«, eine Totenmesse.
Judiths sechsköpfiger Chor endete mit einer Fermate, ihrem bis zum letzten Atem angehaltenen Ton, der von der Empore der gigantischen Kirchenorgel heruntertropfte, die zu bauen und reparieren Reinhold einst gelernt hatte. In Deutschlands flächenmäßig größter Kirche hallte der Ton noch eine gefühlte Ewigkeit nach. Für ewig und drei Tage wird auch das Echo erklingen, das Reinholds Werk hinterlässt. Die Erinnerung bleibt an das gute Herz, das in allen Menschen, die ihn kannten und die er berührte, weiterschlägt.