Ein Christenmensch hofft, dass der Sachverstand leitender Kirchenleute den Regierenden ins Gewissen redet und anderes als nur eine Bestätigung der Politik produziert. Aber ach, die Zeiten, als Synoden wirklich Wegweisendes verlautbarten, sind passé. Good old times.
Den jüngsten Beweis dafür, dass die protestantische Großkirche – die kleineren Freikirchen sind nicht gemeint – nicht daran denkt, sich staatsunabhängig zu gebärden, lieferte die EKD-Synode vom 9. bis 12. November in Dresden. Dort wurde eine neue »Friedensdenkschrift« vorgestellt und mit lang anhaltendem Applaus abgenickt. Sie hat nichts zu tun mit einer biblisch-theologischen Wegweisung oder einer Gewissensschärfung für die kriegstüchtigen Regierenden.
Die Denkschrift war ein »Paukenschlag« (ZDF), die »FAZ« urteilte: »Evangelische Kirche bricht mit ihrer Friedensethik«. Die Bischöfin Kirsten Fehrs, Ratsvorsitzende der EKD, erklärt diese Wende biografisch: »Viele von uns haben sich lange Jahre in der Friedensbewegung engagiert. Ich auch!« ... jetzt aber nicht mehr, so lautet die ungesagte Fortsetzung ihres Satzes.
Die einst friedensbewegte Bischöfin kennt noch das »Nein ohne jedes Ja« zur Aufrüstung/Nachrüstung in den proteststarken 1980er Jahren. Das war die Zeit, als die Vollversammlung des Weltkirchenrates in Vancouver verkündete: »Wir glauben, dass für die Kirchen die Zeit gekommen ist, klar und eindeutig zu erklären, dass sowohl die Herstellung und Stationierung als auch der Einsatz von Atomwaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen.«
Anders die EKD von heute: Ein Ja ohne jedes Nein zur Aufrüstung, auch zur atomaren, hält sie für geboten. Denn sie meint, angesichts der Weltlage (die vor 40 Jahren ebenso gefährlich war) sei »die eigene Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung substanziell auszubauen«. Wohlgemerkt: substanziell – obgleich das gemeinte »Bündnis« sprich Nordatlantikpakt dem gemeinen Feind an Waffenstärke bereits um ein Mehrfaches überlegen ist.
In der Denkschrift wird der Besitz von Atomwaffen bejaht, sofern er von »glaubwürdigen Initiativen« zur Rüstungs-Kontrolle begleitet werde ... Besitz ist freilich sinnlos ohne Anwendungsbereitschaft. Man fragt sich, ob als nächster Schritt die Rechtfertigung des Erstschlags folgen soll, um »gerechten Frieden« zu erreichen? Kurz davor scheinen die Autoren zu stehen, denn sie öffnen ganz vorsichtig eine moralische Tür für Präventivangriffe, unter gewissen Umständen, »in Extremsituationen«, bei »unmittelbaren Bedrohungslagen« – ungeachtet der Tatsache, dass die Uno-Charta solches verbietet.
Verblüffend für den Leser ist die Ignoranz gegenüber der Frage: Wo liegt die Grenze zwischen glaubhafter Abschreckung und Einsatz der Bombe? Das ganze Spiel ist doch unkalkulierbar. Noch vor sechs Jahren forderte die EKD-Synode den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag – gestrichen. Das Konzept vom zivilen Widerstand – gestrichen. Dies alles war, besagt die neue Denkschrift, ein utopisch-idealistischer »Überschuss«. Damit ist nun Schluss. Ein zentraler Begriff der Denkschrift ist der Gerechte Friede. Die Forderung eines Friedensplanes fehlt allerdings für die Ukraine wie für Palästina. Die betonte Kennzeichnung des akzeptierten Friedens mit dem stets großgeschriebenen Beiwort Gerecht meint ja dieses: Kein Frieden um jeden Preis, es gibt Wichtigeres als den Frieden: lever doot üs sclav. So ergibt sich als Folgerung, es muss das Töten in der Ukraine – leider – weitergehen, bis ein »gerechter« Lösungsvorschlag auf dem Tisch liegt.
Dagegen wendet sich die Initiative Christlicher Friedensruf und meint, eine Vernunft des Gewaltverzichts gemäß der Lehre Jesu führe zu ganz anderen Schlüssen als zur Bejahung der Aufrüstung. Deren ökologische und soziale Folgen gehörten hinterfragt, weil Aufrüstung Umwelt und Ressourcen vernichtet. Rüstung tötet nicht erst im Krieg. Das Vertrauen auf (Atom-)Waffengewalt ist mörderisch und ethisch verwerflich, sagt die Initiative. Typisch für die Denkschrift sei die eurozentrische Weltsicht, sodass Stimmen aus der Ökumene, dem globalen Süden, der UNO nicht vorkommen.
Schon mit ihren Vokabeln zeigt die Denkschrift, dass sie weiß, wohin sie gehört. Es sind Vokabeln, die den Rechtfertigungen der hiesigen Militär- und Rüstungspolitik entsprechen. In der Bibel kommen die vorherrschenden Wörter des Textes nicht vor. Andererseits fehlen dem Text weithin biblische Begriffe. Stattdessen soll eine regierungsamtliche Sprachregelung gelten. Es häufen sich sattsam bekannte Blähwörter wie »Bedrohungslage« (statt Gefahr), »Europa« (statt Nato), »hybride Kriegsführung«, »Terrorismus« (wo Terror eigentlich reicht) und »humanitäre Intervention«. Hierher gehört auch der monotone Gebrauch der Formel vom »russischen Angriffskrieg«. Von Neutralität ist die Denkschrift also weit entfernt, auch wenn der »Vorrang des Gewaltverzichts« deklaratorisch aufscheint.
Apropos »humanitäre Intervention«: In einem älteren Grundsatz-Papier der EKD von 2001 (»Friedensethik in der Bewährung«) wurde noch der rechtswidrige Überfall auf Serbien, jener Nato-Angriffskrieg, der erstmals seit Weltkriegsende die Grenzen in Europa gewaltsam veränderte, thematisiert. Die »rückblickende Aufarbeitung«, hieß es zwar ausgewogen, habe Befürworter und Gegner solcherart Gewaltanwendung ohne Uno-Mandat gezeitigt. Doch damals wurde das »Problem sprachlicher Verschleierung und Irreführung im Kosovokrieg« – Beispiel »humanitäre Intervention« und »Kollateralschaden« – immerhin behandelt. Davon zu sprechen, hält man heute nicht mehr für opportun.
Eine Denkfigur der Denkschrift-Autoren sieht so aus: Aus Ungerechtigkeit entstehen Kriege. Darum dürfen die Waffen der Gerechten erst dann schweigen, wenn das Recht gesiegt hat. Nicht anders tönten einst die Durchhalteprediger (»Siegfrieden oder kein Frieden«) im Ersten Weltkrieg, vor Verdun und überhaupt. Dazu passt dann auch die Verharmlosung von Gräueltaten in Nahost. Der Satz, Israel kämpfe »gegen Terrorgruppen, die sich selbst nicht ans Völkerrecht gebunden fühlen, während der Staat [Israel] bei seiner Verteidigung den rechtlichen und ethischen Standards verpflichtet bleibt« könnte auch von der Netanjahu-Regierung formuliert sein – er ist gelogen.
Mit ihrer Denkschrift fällt die EKD in die 50er Jahre des Kalten Kriegs zurück. Im Sommer 1950 hielt der Kölner Kardinal Josef Frings als ranghöchster deutscher Katholik eine Rede vor 30 000 Gläubigen zur Unterstützung der Politik der »Wiederbewaffnung« Westdeutschlands. Die Regierungen (er sprach von Völkern) hätten das Recht, sogar die Pflicht, mit Waffengewalt das gestörte Recht wiederherzustellen, »falls die göttliche Ordnung in ihren tiefsten Fundamenten bedroht und falls [...] begründete Aussicht auf Erfolg gegeben ist«. Daraus folgte bei Frings die christliche Weisung, dass in einem christlichen Staat die »Propaganda für eine uneingeschränkte und absolute Kriegsdienstverweigerung mit dem christlichen Gedanken nicht vereinbar ist«. Auf diesem Niveau ist die EKD heute.
Das Gute an der Denkschrift zuletzt. Sie ist in einem solch langatmig-langweiligen Fremdwort-Deutsch verfasst, dass kaum jemand die Mühsal auf sich nimmt, sie bis zum Ende durchzulesen.