nd-aktuell.de / 26.11.2025 / Politik

Vergessen im tunesischen Niemandsland

Bei der Repression und Abwehr von schatzsuchenden Migranten hat die EU Tunesien mit Ausrüstung unterstützt

Mirco Keilberth, Sfax
Tunesien ist eine der wichtigen Destinationen für afrikanische Migranten, die übers Mittelmeer nach Europa wollen. Hier steht eine Gruppe an der libyschen Grenze zu Tunesien.
Tunesien ist eine der wichtigen Destinationen für afrikanische Migranten, die übers Mittelmeer nach Europa wollen. Hier steht eine Gruppe an der libyschen Grenze zu Tunesien.

Mit den derzeit sinkenden Temperaturen verschärft sich auch die Lage der in provisorischen Flüchtlingscamps nördlich der Hafenstadt Sfax lebenden Migranten und Flüchtlinge. Vor rund zwei Jahren waren alle migrantischen Tagelöhner aus der Industrie-und Handelsstadt vertrieben worden. Die Zahl der aus mehr als einem Dutzend Ländern kommenden Menschen in den 17 Lagern ist unklar, auch weil das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) dort nur eingeschränkt oder gar nicht tätig werden darf.

Laut IOM wurden im letzten Jahr über 10 000 Migranten in Kooperation mit der tunesischen Regierung in ihre Heimat zurückgeflogen. Nach der Lieferung von Drohnen durch die EU und Überwachungsflugzeuge durch die US-Armee an Nationalgarde und Küstenwache legen kaum noch Schmugglerboote nach Lampedusa ab. Laut Nationalgarde wurden im letzten Jahr über 70 000 Menschen aus den meist seeuntauglichen Metallbooten der Schmuggler gerettet. Die deutsche Bundesregierung finanziert eine Militärakademie und die Ausbildung von Marineoffizieren, auch andere westliche Länder trainieren die Sicherheitskräfte.

Nun wird die Partnerschaft auch im Kampf gegen Migration[1] über das Mittelmeer genutzt. Die neu gelieferte Ausrüstung werde aber auch gegen die Zivilgesellschaft genutzt, behaupten Kritiker. Terre d’asile Tunisie und fast alle anderen in Sfax gegründeten Initiativen, die sich für die Rechte von Migranten einsetzten, mussten schließen; einige der Aktivisten sitzen aufgrund des Vorwurfs finanzieller Unregelmäßigkeiten im Gefängnis.

Die Bewohner der Lager organisieren ihr Überleben und die medizinische Versorgung selbst. Während es im Sommer immer wieder zu Todesfällen wegen Infektionen, Unterernährung und Nicht-Behandlung von chronischen Krankheiten kam, nehmen jetzt die Fälle von Lungenentzündungen zu. »Ich helfe in meiner Feldklinik zurzeit bei fünf Geburten in der Woche, sagt Ibrahim Foufana, ein Arzt aus Sierre Leone. «Doch wie bei den Verletzungen, die bei den regelmäßigen Zerstörungen der Camps durch die Sicherheitskräfte[2] vorkommen, fehlt es uns an grundlegenden Dingen wie Schmerzmitteln.»

Einige der Krankenschwestern aus seinem Freiwilligenteam wurden in die Nähe des algerischen Grenzortes Tebessa deportiert, ohne Nahrung oder Wasser. In dem gebirgigen Grenzgebiet ist am Montag der erste Schnee gefallen.

Und weil in der Heimat nur Schulden oder Arbeitslosigkeit warten, wagen viele immer wieder die gefährliche Überfahrt nach Italien[3]. Zuletzt starben Mitte Oktober vor der Küste der Hafenstadt Mahdia mindestens 40 Menschen. Auf dem verunglückten neun Meter langen Metallboot befanden sich laut Augenzeugen mindestens 65 Migrant*innen aus der Elfenbeinküste und Guinea-Conakry, darunter viele Mütter mit ihren Kindern. Sie waren gegen Mitternacht von einem Strand bei Salakta von Schmugglern losgeschickt worden. Nur wenige Kilometer vor der Küste bekam das überladene Boot Schlagseite und sank in wenigen Minuten. Nachdem auf dem Wasser treibende Überlebende per Mobiltelefon lokale Behörden alarmierten, rettete die Besatzung eines Patrouillenbootes der tunesischen Küstenwache 30 Menschen.

«Obwohl es in diesem Jahr nur wenige Boote geschafft haben, den Schiffen der Küstenwache zu entwischen, hoffen wir weiterhin auf einen Platz in den Booten», sagt Abubakr Bangura aus Sierra Leone in Al-Amra. In dem südlich von Mahdia gelegenen Fischerdorf sehen zwar viele die Anwesenheit der Migrant*innen kritisch, gleichzeitig sind diese Teil des lokalen Wirtschaftskreislaufs geworden.

Trotz des Verbots Migranten anzustellen[4], an sie Wohnungen zu vermieten, im Taxi mitzunehmen oder Medikamente zu verkaufen, verdienen viele als informelle Tagelöhner das nötige Geld zum Überleben in den Zeltlagern. Für die Überfahrt nach Lampedusa nehmen die Schmuggler 500,- Euro pro Passagier, die Metallboote werden in Hinterhofwerkstätten in wenigen Stunden zusammengeschweißt.

«Die ohne Kiel konstruierten Boote sind schon mit 40 Menschen an Bord lebensgefährlich», sagt einer der Fischer im Hafen von La Louza. «Wenn die Schmuggler aus Geldgier mehr an Bord nehmen, bringt schon eine leichte Panik an Bord das Boot aus dem Gleichgewicht.» Doch die Menschen seien «bereit, für ein normales Leben in Europa einfach alles zu riskieren», sagt Bangura. «Viele hier haben nichts mehr zu verlieren.»

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190471.tunesien-angriff-in-den-olivenhainen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190577.sfax-und-al-amra-fluechtlingscamps-in-tunesien-die-grosse-vertreibung.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194979.migration-massengrab-mittelmeer.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190504.gefluechtete-eu-freut-sich-ueber-repressive-grenzregime-in-nordafrika.html