nd-aktuell.de / 26.11.2025 / Politik

Tunesien: Das System schlägt zurück

Die tunesischen Behörden gehen mit massiven Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Gruppen vor

Mirko Keilberth, Tunis
Massenprotest gegen den tunesischen Chemiekonzern in der Küstenstadt Gabès: Ein Demonstrant hält ein Schild hoch mit der arabischen Aufschrift »Gabès ohne Sauerstoff«
Massenprotest gegen den tunesischen Chemiekonzern in der Küstenstadt Gabès: Ein Demonstrant hält ein Schild hoch mit der arabischen Aufschrift »Gabès ohne Sauerstoff«

Mit Straßenprotesten in Tunis und der südlichen Hafenstadt Gabès hat sich die aktivste Zivilgesellschaft der arabischen Welt zurückgemeldet. In den letzten beiden Jahren gingen zwar viele Tunesier gegen das israelische Vorgehen in Gaza auf die Straße, doch die schwindende Meinungsfreiheit im eigenen Land[1] trauten sich nur wenige anzusprechen. Zurzeit sitzen mehrere Politiker und Gegner von Präsident Kais Saied wegen Korruption und dem Empfang von Geldern aus dem Ausland in Haft. Journalisten und Aktivisten wurden zu Haftstrafen verurteilt auf Grundlage des Paragrafen 54, der üble Nachrede und das Verbreiten von Falschmeldungen unter Strafe stellt.

Viele Tunesier sind enttäuscht über die politischen Eliten und Parteien, die sich nach dem Arabischen Frühling vor laufenden Kameras im Parlament beschimpften und ihren Anhängern Posten in der aufgeblähten öffentlichen Verwaltung verschafften. Die Popularität des 2019 mit großer Mehrheit gewählten Politikquereinsteigers Saied ist trotz seines autokratischen Kurses bisher ungebrochen. Doch der Präsident und Juraprofessor konzentriert sich auf den Umbau des von der französischen Kolonialzeit geprägten tunesischen Staatsapparates[2] auf ein basisdemokratisches Modell. In Eigenregie ließ er über eine von ihm geschriebene Verfassung und ein Parlament abstimmen[3], mit rekordverdächtig niedriger Wahlbeteiligung von knapp über zehn Prozent. Gegen die steigenden Lebenshaltungskosten[4] hat er bisher kein durchschlagendes Rezept.

Eine noch aus Zeiten von Diktator Zine Al-Abidine Ben Ali stammende Umweltsünde deckt nun die ausgebliebenen Reformen der letzten Jahrzehnte auf. Anfang Oktober wurden in der südlichen Küstenstadt Gabès mehrere Schulkinder mit Vergiftungserscheinungen in Krankenhäuser eingeliefert. In der einzigen am Mittelmeer gelegenen Oase wird seit Ende der 70er Jahre im Landesinneren gefördertes Phosphat mithilfe von Schwefelsäure und anderen hochgiftigen Flüssigkeiten zu Dünger verarbeitet. Tage nach den durch mangelnde Wartung verursachten Gaslecks forderten 40 000 Einwohner aus allen Gesellschaftsschichten die Schließung der Düngemittelfabrik des Staatsbetriebes »Groupe Chimique Tunisien« (GCT).

Von der EU beauftragte Experten stellten schon vor Jahren an den Stränden von Gabès hohe Arsenkonzentrationen fest, die jeden Grenzwert übersteigen. Präsident Saied stellte sich vor die Protestler und eine technische Lösung mithilfe chinesischer Firmen in Aussicht. Doch selbst der zu Hilfe gerufene chinesische Botschafter gibt sich angesichts der nötigen milliardenschweren Investitionen zur Behebung des Problems äußerst wortkarg.

Als letzte Woche dann Mütter von betroffenen Kindern bei neuen Protesten in Gabès festgenommen und des Terrorismus verdächtigt wurden, regte sich auch unter den bisher Saied-treuen Parlamentariern[5] und Aktivisten der Widerstand: »Saied hat die in vielen Städten präsente Umweltverschmutzung als auch einen Sicherheitsapparat übernommen, der sich zunehmend selbstständig macht«, sagt ein Umweltaktivist aus Gabès, der seinen Namen lieber nicht öffentlich nennen möchte.

Anfang Oktober wurden in der südlichen Küstenstadt Gabès mehrere Schulkinder mit Vergiftungserscheinungen in Krankenhäuser eingeliefert.

In Tunis fordert die Journalistengewerkschaft SNJT die sofortige Streichung des Paragrafen 54 und ein Ende der Gerichtsverfahren gegen Kritiker der Politik von Präsident Kais Saied. Die ebenfalls Mitte Oktober beschlossene vorübergehende Schließung von bis zu 500 Bürgerinitiativen, Medien und von NGOs wird von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Die weltweit bekannten Aktivisten[6] des Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux (FTDES) und der unabhängigen Medienplattform »Nawaat« dürfen laut einem Gerichtsbeschluss vier Wochen nicht arbeiten. Viele Beobachter aus der Szene gehen davon aus, dass die Ermittlungen wegen Annahme von Projektgeldern deutscher Stiftungen und anderer demokratiefördernder Institutionen noch länger andauern werden. Da es keine offizielle Liste der betroffenen Organisationen gibt, ist unklar, welche Organisationen betroffen sind.

Der ehemalige Chef der moderaten Islamistenpartei Ennahda, Rached Ghannouchi, befindet sich zusammen mit anderen inhaftierten Mitstreitern aus Solidarität mit dem Rechtsanwalt Jawhar Ben Mbarek in einem Hungerstreik. Der seit 2023 im Gefängnis sitzende Chef der größten Oppositionspartei Nationale Rettung war nach Angaben seiner Familie von Polizeibeamten am 11. November mit Gewalt dazu gezwungen worden, seinen Hungerstreik zu beenden. Seit 2023 sitzt Ben Mbarek wegen versuchter Verschwörung zur Absetzung des Präsidenten in Haft. Seine Rechtsanwältin Hanen Khmirir klagt, ihr Mandant habe während der Haft Knochenbrüche und Schläge erlitten.

Das amerikanische Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) fordert die Freilassung der Rechtsanwältin Sonia Dahmani und fünf weiterer Menschenrechtsaktivisten. Dahmani erhielt von der CPJ zudem den »International Press Freedom Award« 2025. Die mit ihren spitzzüngigen TV-Kommentaren landesweit bekannt gewordene Tunesierin sitzt wegen eines Auftritts in einer Talk Show in Haft. Als ein Mitdiskutant behauptete, die Migranten aus Subsahara-Afrika[7] kämen nur nach Tunesien, um den Reichtum und die Schönheit des Landes zu rauben, erwiderte sie: »Welches paradiesische Land meinen Sie denn: Das, aus dem die eigene Jugend flieht?«

Ein Gericht verurteilte Dahmani daraufhin nach dem 2022 eingeführten Paragrafen 54 zu einem Jahr Gefängnis. Ihre Schwester Ramla wurde in Abwesenheit zu zwei Jahren verurteilt, nachdem sie die Haftbedingungen kritisiert und die Freilassung von Sonia Dahmani gefordert hatte.

Auch zwischen der größten Gewerkschaft und dem Präsidentenpalast scheint die Lage zu eskalieren. Die UGTT war Mitorganisator der Proteste in Gabès und droht mit größeren Streiks für höhere Löhne. Präsident Saied könnte diese ab dem nächsten Jahr maßgeblich selbst festlegen und sieht in den Gewerkschaftsbossen wohl das letzte verbliebene gesellschaftliche Gegengewicht zu seinen Plänen. Nachdem der EU-Botschafter Guiseppe Perrone sich letzte Woche mit UGTT-Vertretern getroffen hatte, wurde er von Saied »wegen der Verletzung diplomatischer Gepflogenheiten« persönlich vorgeladen. Immerhin scheint der Druck der Zivilgesellschaft zu wirken. Die ersten Frauenrechtsorganisationen haben am Montag ihre Arbeit wieder aufnehmen können.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184998.tunesien-pro-forma-demokratie.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184994.praesidentschaftswahl-in-tunesien-gelenkte-volksentscheidung.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169567.parlamentswahlen-tunesiens-praesident-hat-sich-verrechnet.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189679.nordafrika-tunesien-der-leuchtturm-hat-viel-strahlkraft-eingebuesst.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185810.praesidentschaftswahl-dubioser-wahlausgang-in-tunesien.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184260.sihem-bensedrine-kaempferin-gegen-giftige-diktatur-in-tunesien-verhaftet.html
  7. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195767.tunesien-vergessen-im-tunesischen-niemandsland.html