In den Verhandlungen über die Bedingungen eines Kriegsendes in der Ukraine versuchen die EU-Staaten, ihren Einfluss geltend zu machen. Ein wesentliches Instrument dafür sind die russischen Milliardenvermögen, die Europa eingefroren hat und die an die Ukraine fließen sollen. Juristisch umstritten bleibt allerdings, ob die EU über diese Milliarden überhaupt verfügen darf. Die Frage berührt das gesamte Weltfinanzsystem.
Unterstützung und Wiederaufbau der Ukraine werden sehr teuer. Die USA und Europa haben dem Land bereits mit über 300 Milliarden Euro geholfen, das entspricht fast dem Doppelten der ukrainischen Wirtschaftsleistung. In den nächsten vier Jahren sind voraussichtlich weitere 350 Milliarden nötig. Da sich die USA sich als Finanzier zurückgezogen haben, liegt die Rechnung in Europa. Dort allerdings verschlingt die eigene Aufrüstung bereits Milliarden, gleichzeitig ist die Verschuldung hoch.
Damit geraten die Gelder ins Visier, die die EU nach der russischen Invasion 2022 eingefroren hat und so eine »neue Ära der finanziellen Kriegsführung« startete, so der US-Journalist Michael Hirsh in »Foreign Policy«. Insgesamt handelte es sich dabei um rund 200 Milliarden Euro an Währungsreserven der russischen Zentralbank[1], die in Form von Bargeld und Staatsanleihen bei EU-Institutionen hinterlegt waren, vor allem in Belgien.
Moskau bezeichnete das Einfrieren seiner Reserven zwar als »Diebstahl«. Grundsätzlich jedoch handelt es sich um eine nicht unübliche Maßnahme. Bricht ein Staat internationales Recht, so ist es erlaubt, seine Gelder zu sperren. Dabei muss es sich allerdings um eine »Gegenmaßnahme« handeln, mit der eine Regierung – im aktuellen Fall die russische – dazu gebracht werden soll, das internationale Recht wieder zu befolgen. Das eingefrorene Vermögen bleibt Eigentum Russlands und muss zurückgegeben werden, sobald der Grund für die Blockade entfällt. Dagegen stellt die Konfiskation von ausländischen Vermögen eine entschädigungslose Enteignung dar. Sie wäre eine Strafaktion und – sollte das Geld einfach an die Ukraine überwiesen werden – dauerhaft. Solche Enteignungen von Staatsvermögen sind im Prinzip mittels internationaler Investitionsabkommen untersagt.
Die EU suchte daher in den vergangenen Monaten einen Umweg: Sie beschloss, nur die Zinserträge, die die eingefrorenen russischen Vermögenswerte abwerfen, der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Auch das ist allerdings rechtlich umstritten. Zudem sind die Zinserträge gering – 2024 betrugen sie knapp sieben Milliarden Euro. Die EU debattiert daher derzeit einen neuen Vorschlag: Sie gewährt der Ukraine einen zinslosen Kredit über 140 Milliarden Euro, die die Ukraine letztlich mit Hilfe der eingefrorenen russischen Vermögen zurückzahlt, nachdem sich Russland zu Reparationszahlungen an die Ukraine verpflichtet hat. Dafür allerdings müsste Russland diese Verpflichtung eingehen. Damit es das tut, droht die EU, die Gelder so lange zu sperren, bis Russland nachgibt.
Doch auch dieser Plan eines »Reparationskredits« ist in Europa umstritten. Vor allem Belgien, wo Russlands Milliarden liegen, fürchtet rechtliche Konsequenzen. Der EU-Plan »sieht aus wie eine Konfiskation, er riecht nach Konfiskation und man könnte ihn daher als eine Art Konfiskation bezeichnen«, sagte Premier Bart De Wever. Er fordert daher ein finanzielles Beistandsabkommen von den anderen EU-Staaten, sollte Russland erfolgreich auf Rückgabe klagen – bisher erfolglos.
Unterdessen haben auch die USA Interesse an den russischen Milliarden angemeldet: Der 28-Punkte-Plan zwischen Washington und Moskau sah vor, dass 100 Milliarden der russischen Reserven in US-russische Gemeinschaftsprojekte fließen, von deren Profiten wiederum die Hälfte an US-Adressen geht. Zusätzlich soll die EU weitere 100 Milliarden Dollar zum Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Diesen Plan bezeichnete Bundeskanzler Friedrich Merz als »nicht zustimmungsfähig«. Derzeit ist unklar, ob die USA sich in dieser Frage kompromissbereit zeigen.
Die EU-Kommission macht derweil Druck, um eine tragende Rolle in den Verhandlungen um eine Beendigung des Krieges zu spielen[2]: In den nächsten Tagen will sie einen Vorschlag unterbreiten, wie das Konstrukt eines »Reparationskredits« an die Ukraine juristisch sicher gestaltet werden kann. »Jede Entscheidung muss europäisches und internationales Recht wahren«, sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.
Mit der Betonung der Rechtmäßigkeit will die EU vermeiden, dass ihr Ruf als Schuldner und Finanzzentrum Schaden nimmt. Denn in dieser Hinsicht stellt ihr Umgang mit Russlands Reserven einen problematischen Präzedenzfall dar: Er demonstriert staatlichen wie privaten Investoren der ganzen Welt, dass in der EU angelegtes Vermögen im Fall eines Konfliktes mit den Mächten Europas nicht mehr sicher ist. Oder anders gesagt: Der globale Finanzreichtum besteht im Wesentlichen aus Zahlungsansprüchen, also aus zugesicherten Rechten – und wenn diese Rechte fragwürdig werden, wackelt das ganze System.
Mit dem Einfrieren der russischen Milliarden nutzt also der Westen seine Stellung als Finanzzentrum der Welt – und unterminiert gleichzeitig das Vertrauen, das dieser Stellung zugrunde liegt. Als Folge dürfte sich die Aufteilung des globalen Finanzsystems in verschiedene geopolitische Lager weiter fortsetzen. [3]Denn die chinesische Regierung kann angesichts der eingefrorenen russischen Devisenreserven davon ausgehen, dass sie im Falle einer geopolitischen Eskalation den Zugriff auf ihre im Westen lagernden Vermögen verlieren würde. Mit der Fragmentierung des globalen Finanzsystems jedoch die Macht des Westens und insbesondere der USA, dieses System zu nutzen, um andere Länder zu sanktionieren.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195794.eu-und-russland-ukraine-finanzielle-kriegsfuehrung.html