nd-aktuell.de / 28.11.2025 / Berlin

Gewalt auf der Nakba-Demo: Die Wahrheit der Berliner Polizei

In Politik und Behörden hält sich die Geschichte eines Angriffs, durch den ein Polizist verletzt worden sein soll

Jara Nasser
57 Personen nahm die Polizei auf der Nakba-Demonstration im Mai fest.
57 Personen nahm die Polizei auf der Nakba-Demonstration im Mai fest.

Zeinas1 Wohnung wurde durchsucht. Am 11. November in Berlin. Auf dem Handy der 24-jährigen Deutsch-Palästinenserin vermutete die Polizei Beweismaterial zu einem angeblich brutalen Angriff von Demonstrant*innen auf einen Polizisten[1]. Das geht aus dem Durchsuchungsbeschluss hervor. Der Fall soll sich bereits im Mai im Rahmen der sogenannten Nakba-Demonstration ereignet und eine schwere Verletzung des Beamten zur Folge gehabt haben. So die Erzählung der Polizei[2], der etliche Medien folgten.

Eine bereits im Juli veröffentlichte Recherche der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) zeigt jedoch eine andere Version. Demnach habe es Gewalt seitens der Demonstrant*innen gegeben. Ein für die Verletzung des Polizisten ursächlicher Angriff sei auf dem umfangreichen Videomaterial aber nicht zu erkennen gewesen. »Die Bullen haben jeden dumm und dämlich geschlagen«, berichtet Zeina, deren Wohnung auf Grundlage der zweifelhaften Polizei-Behauptung dieser Tage durchsucht wurde, von der Nakba-Demonstration.

Die Demonstration wird auch als N77 bezeichnet und erinnert an die historische Nakba (arabisch: Katastrophe), die gewaltsame Vertreibung von mehr als 700 000 Palästinenser*innen 1947/48 durch verschiedene zionistische Milizen aus dem historischen Palästina. Die Demonstration richtete sich auch gegen die Kriegsführung Israels in Gaza, die seit fast zwei Jahren von führenden Menschenrechtsorganisationen und Expert*innen als Genozid eingestuft wird.

Kurz nach der Demonstration im Mai machte jedoch nicht die Polizeigewalt Schlagzeilen, sondern eine andere Nachricht: Ein Polizist, der in diesem Einsatz die Rückennummer 24111 trug, sei von »mehreren Gewalttätern« gezielt in die Menge gerissen und zu Boden gebracht worden. Die vermeintlichen Gewalttäter »traten massiv auf ihn ein«, teilte die Polizei am 16. Mai mit. 24111 habe sich bei der Demonstration eine Fraktur am Arm sowie Prellungen der Wirbelsäule zugezogen.

Stephan Weh, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Berlin wurde im Boulevard-Blatt »Bild« gar folgendermaßen zitiert: »Wenn ein Kollege in eine Menschenmenge gezogen und dort niedergetrampelt wird, mehrfach das Bewusstsein verliert, müssen wir von reinem Glück reden, dass er die Nacht überlebt hat.« Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, spitzte es noch weiter zu: »Die [Demonstranten] hätten den Beamten ja auch umgebracht, wenn sie gekonnt hätten. Das sind keine Demonstranten, das ist eine Mörderbande.«

Zwei Monate später, am 16. Juli durchsuchte die Polizei fünf Wohnungen im Zusammenhang mit den Ereignissen um 24111. Bereitschaftspolizei und das Landeskriminalamt hätten im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft Wohnanschriften »in einem Verfahren wegen der propalästinensischen Demonstration ›Nakba 77‹ am 15. Mai 2025 in Berlin und dem in diesem Zusammenhang erfolgten Angriff auf einen Polizeibeamten« durchsucht, teilte die Polizei mit.

Keine Person, deren Wohnung durchsucht worden war, wurde verdächtigt, die Verletzung des Polizisten mitverschuldet zu haben. Drei von ihnen wurden sogar nur als Zeug*innen geführt. So auch Zeina. Aus mehreren Wohnungen wurden elektronische Geräte mitgenommen, die angeblich Videoaufnahmen der N77 enthalten sollen.

Was den Fall so brisant macht: Bereits am 11. Juli, also fünf Tage vor der ersten Welle von Durchsuchungen, veröffentlichten »SZ« und die Rechercheagentur Forensis eine Recherche, die der Darstellung der Polizei in weiten Teilen widerspricht. Ein 360-Grad-Video des palästinensischen Journalisten Mohannad Darabee zeigt die äußerst unübersichtliche Situation. Darauf ist zu erkennen, dass 24111 entgegen den Behauptungen, freiwillig mit einer Gruppe Polizist*innen in die Menge eindrang und nicht von seiner Gruppe getrennt wurde.

»Die Beamten werden in diesen Minuten sehr grob angegangen«, schreibt die »SZ«. Sie seien geschubst und getreten worden. Allerdings legt die Recherche vor allem nahe, dass der verletzte Polizist mit der Nummer 24111 nicht zu Boden gebracht wurde, sondern dass er es war, der einen Demonstranten auf den Boden drückte: Statt »massivem Eintreten« auf ihn durch die Menge sieht man, dass er selbst gewalttätig agierte, so die Analyse von Forensis. Auch auf anderen Videos von N77 sieht man 24111 auf Demonstrant*innen einprügeln.

Nach Auftauchen dieser neuen Beweise verwies die Polizei stoisch auf ihre Pressemitteilung vom 16. Mai. Nach wie vor scheint die Berliner Polizei an ihrer ursprünglichen Version der Ereignisse – dass es sich um einen absichtlichen Gewaltakt von Protestierenden gegenüber 24111 gehandelt habe – festzuhalten, eine »nd«-Nachfrage dazu wurde nicht beantwortet. Die Polizei teilte aber mit, »dass im Zusammenhang mit der ›Nakba 77‹-Demonstration am 15. Mai 2025 insgesamt sechs Strafermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt bearbeitet wurden beziehungsweise noch in Bearbeitung stehen«. Die Staatsanwaltschaft teilte »nd« mit, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und sie deshalb keine weiteren Auskünfte erteilen könne.

»Die Polizei will beweisen, dass wir eine organisierte Gruppe von Verbrechern sind, die darauf aus sind, Polizisten zu töten. Aber diese Beweise gibt es nicht.«

Nomi Sladko 
Von der Polizei beschuldigte Demo-Teilnehmerin

»Die Polizei will beweisen, dass wir eine organisierte Gruppe von Verbrechern sind, die darauf aus sind, Polizisten zu töten«, meint Nomi Sladko, deren Wohnung im Juli durchsucht worden war. Sie wird des schweren Landfriedensbruchs, des Widerstands gegen Polizeibeamte und der versuchten Gefangenenbefreiung beschuldigt. »Aber diese Beweise gibt es nicht.« Auf dem von der »SZ« veröffentlichten Video sieht man, wie 24111 ihr mehrfach gegen den Kopf schlägt, zuletzt so stark, dass sie zu Boden geht. Der Schlag gegen ihre Schläfe ist der letzte, bevor sich 24111 – augenscheinlich verletzt – in den Kreis seiner Kollegen zurückzieht.

Nach eigenen Angaben verlor Nomi Sladko durch die Schläge das Bewusstsein und blutete aus dem Ohr. Zusammen mit dem European Legal Support Center (ELSC) verklagte sie die Polizei wegen schwerer Körperverletzung und falscher Anzeige. Es habe in den vergangenen vier Monaten jedoch noch keine Reaktion gegeben.

Über Stunden hinweg hatten mehrere Hundert Polizist*innen die Demonstrierenden eingekesselt; sie verhafteten Sprecher*innen und prügelten immer wieder auf die Menge ein. Vonseiten der Protestierenden kam es zu Flaschen- und Farbwürfen. 57 Personen wurden festgenommen. Clemens Arzt, der jahrelang Polizist*innen ausgebildet hat und selbst bei der N77 dabei war, äußerte sich schockiert über das Ausmaß der Polizeigewalt. »Ich kenne kein anderes Bundesland, wo so rabiat gegen Versammlungen vorgegangen wird, wenn sich Leute mit Gaza solidarisieren«, wird Arzt, ehemaliger Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, in der »SZ« zitiert.

»Natürlich war die Polizei sehr unglücklich über die Darstellung in nationalen und internationalen Medien«, sagt Sladko. Die Durchsuchungen hält sie für Schikane: »Warum noch Beweise sichern, wenn schon längst alle in nationalen und internationalen Medienplattformen veröffentlicht wurden?« Die Durchsuchungsbefehle wurden in allen Fällen Ende Juni ausgestellt, also vor der Veröffentlichung der Gegenbeweise. Nach der Veröffentlichung der »SZ«-Recherche am 11. Juli hätten sie auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden müssen – doch das geschah anscheinend nicht.

Hausdurchsuchungen sind ein enormer Eingriff in die Privatsphäre und für die meisten Betroffenen eine große psychische Belastung. In den vergangenen zwei Jahren wurden sie regelmäßig bei palästinasolidarischen Aktivist*innen angewendet. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern diese Durchsuchungen neben einer möglichen Aufklärung des Falles – obwohl die Sachlage dank der veröffentlichten »SZ«-Recherche zweifelsfrei geklärt erscheint – auch eine strafende Komponente erfüllen sollen. Führt die Berliner Polizei einen enormen Eingriff in die Privatsphäre bekannter palästinasolidarischer Aktivist*innen durch, um sie einzuschüchtern?

Der Journalist Mohannad Darabee hat das Video aufgenommen, das die Darstellung der Polizei zu widerlegen scheint. Er sei nie von ihr kontaktiert worden, berichtet er »nd«. In seine Wohnung wurde Ende August eingebrochen. Die Täter*innen haben »alles auf den Kopf gestellt«. Mehrere wertvolle Kameras seien liegen gelassen worden, nur etwas Geld und Schmuck sei mitgenommen worden. Das Videomaterial hätten die Einbrecher*innen nicht mitgenommen. Darabee verwahrt es an einem sicheren Ort, wie er sagt. Die Polizei habe die Untersuchung zum Einbruch inzwischen ohne Ergebnisse eingestellt.

Statt in Rufen zur Aufklärung übten sich verschiedene Politiker*innen von CDU bis SPD sofort in der Instrumentalisierung des angeblichen Angriffs auf den Polizeibeamten. Die politische Stoßrichtung, die damit legitimiert werden sollte: eine Verschärfung des Berliner Versammlungsgesetzes, vor allem die Wiedereinführung des Begriffs der »öffentlichen Ordnung«.

»Öffentliche Ordnung« ist ein sehr weitgreifender Begriff, der es Polizei und Politik auch erlaubt, unliebsame politische Stimmen mit starken Repressionen zu belegen[3]. Der Begriff war 2021 aus dem Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz gestrichen worden, gegen den Willen verschiedener Polizeibehörden und Politiker*innen.

1) Name von der Redaktion geändert.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191375.berlin-nakba-demo-videos-stellen-offizielle-darstellung-infrage.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193711.demos-polizeigewalt-sehr-sichtbar-aber-ignoriert.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194836.palaestina-solidaritaet-anti-antisemitismus-das-hehre-ziel-als-motor-des-autoritarismus.html