Unerwartet kamen die Hausdurchsuchungen bei Andrij Jermak nicht. Bereits seit einer Woche war klar, dass der Leiter des ukrainischen Präsidentenbüros als »Ali Baba« in den »Minditsch-Files«, dem aktuell massivsten Korruptionsskandal der Ukraine[1], auftaucht. Dass die Ermittler des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (Nabu) Jermak auch offiziell verdächtigen werden, war nur eine Frage der Zeit.
Für Präsident Wolodymyr Selenskyj sind die Durchsuchungen bei Jermak ein schwerer Schlag, war doch sein Büroleiter seine rechte (und linke) Hand und zog als graue Eminenz im Hintergrund die großen Strippen in der ukrainischen Politik; selbst an der Front soll er darüber entschieden haben, wann sich die Armee zurückziehen darf. Für diese Machtfülle steht Jermak schon länger in der Kritik. Seit Tagen wurden die Rücktrittsforderungen aus dem In- und Ausland immer lauter. Nun wurden sie erhört.
Selenskyj hatte noch versucht, Jermak aus der Schusslinie zu nehmen, und ihn überraschend zum Delegationsleiter gemacht, um weit weg von der Ukraine Trumps Friedensplan zu diskutieren. Nachdem er von den Ermittlungen erfahren hatte, wohlgemerkt. Jedoch vergebens.
Beobachter sehen den Zeitpunkt der Durchsuchungen – am Vorabend der Anreise des neuen US-Sondergesandten Daniel Driscoll – als Signal aus Washington, das seinen Friedensplan so schnell wie möglich von Selenskyj unterschrieben sehen will. Dafür müsste Kiew seine Armee aus dem Donbass abziehen, was die Regierung bisher kategorisch ausschließt. Noch am Donnerstag hatte Jermak betont, dass die Ukraine keine territorialen Zugeständnisse machen werde, solange Wolodymyr Selenskyj Präsident sei.
Möglich also, dass Washington das Nabu, das aus den USA finanziert wird, vorgeschickt hat, um Selenskyj klarzumachen, dass die Lage ernst ist und es Zeit wird, seine Position zum Friedensplan zu korrigieren.
In der Ukraine kursiert jedoch auch eine andere Version, wonach Selenskyjs politische Gegner im Inland versuchen, dem Präsidenten seine tatsächliche Macht zu entziehen und ihn zu einer eher repräsentativen Figur werden zu lassen.
Wie es jetzt weitergeht, hängt vor allem davon ab, ob gegen Jermak auch Anklage erhoben wird. Mehrere ukrainische Medien melden, dass der Präsidialamtsleiter die Zeit genutzt habe, um belastendes Material zu vernichten. Das Nabu scheint seinerseits überzeugt zu sein, genügend gegen Jermak in der Hand zu haben. Die Folgen einer Anklage könnten in jedem Fall innen- wie außenpolitisch gravierend sein.
Kommt es zu einer Anklage, wird Jermak ins Gefängnis müssen, was auch Auswirkungen auf Selenskyj haben dürfte. Damit würde sein politisches Konstrukt zusammenbrechen. Der Präsident würde die Kontrolle über die Parlamentsmehrheit, die Regierung, den Inlandsgeheimdienst und das Staatliche Ermittlungsbüro verlieren, mit dessen Hilfe Jermak unter anderem gegen das Nabu vorging.
Im Parlament selbst würde ein Machtvakuum entstehen, das entweder vom Diener-des-Volkes-Fraktionsvorsitzenden Dawyd Arachamija (den Selenskyj im Visier hat) oder von der Opposition um Ex-Präsident Petro Poroschenko gefüllt wird, die ein Misstrauensvotum gegen das Kabinett anstreben könnte.
Lange hatte sich Selenskyj gegen alle Forderungen gewehrt, Jermak zu entlassen oder zumindest seine Befugnisse zu beschneiden. Am Freitagnachmittag erlöste Jermak seinen Präsidenten und reichte seinen Rücktritt ein. Das Präsidentenbüro solle nun umgebaut werden, sagte Selenskyj. Am Sonnabend sollen Gespräche mit Nachfolgekandidaten stattfinden. Gerüchteweise könnte die erst seit Juli amtierende Premierministerin Julia Swyrydenko [2]nachrücken. Sie gilt als enge Vertraute Selenskyjs.
Der Abgang Jermaks dürfte sich auch auf die Verhandlungen über ein Kriegsende auswirken. Ausländische Politiker sollen Jermak oft als Kanal zu Selenskyj genutzt haben, schreibt der »Guardian«. Ein hohes Ansehen genießt Jermak aber weder in Brüssel noch in Washington, wo die Trump-Administration lieber mit Ex-Außenminister Rustem Umjerow redet. Nun wird sich zeigen, mit wem die Unterstützer im Westen in Zukunft reden müssen.