nd-aktuell.de / 28.11.2025 / Politik

Weitere Todesopfer rechter Gewalt: endlich Anerkennung

Ein wissenschaftliches Gutachten erkennt deutlich mehr Opfer in Thüringen als bisher anerkannt wurden.

Sebastian Haak
»Stoppt Nazis« ist auf einem Schild zu lesen, das am Rande einer Demonstration an einem Laternenmast hängt.
»Stoppt Nazis« ist auf einem Schild zu lesen, das am Rande einer Demonstration an einem Laternenmast hängt.

Ob sich Heinz Mädel und Klaus-Peter Kühn jemals gekannt haben? Zumindest flüchtig? Jedenfalls gibt es drei Dinge, die sie verbinden, tragisch verbinden. Beide wurden in Suhl getötet. Beide aus rechtsextremen Motiven.

Mädel – der zum Zeitpunkt seines Todes 58 Jahre alt war – wird im Juni 1990 von zwei jungen Frauen in der ehemaligen DDR-Bezirksstadt angegriffen, ohne erkennbaren Grund. Er ist gerade auf einem Abendspaziergang unterwegs. Mehrfach treten die beiden jungen Frauen auf ihn ein, auf seinen Oberkörper, auf sein Gesicht. Während der Tat beschimpfte ihn mindestens eine der Täterinnen als »Schwulen«. Mädel trägt Rippenserienbrüche, Rippendurchspießungen und Prellungsblutungen in beiden Lungen davon. Wenige Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen Verletzungen.

Diese Tat ist auch im bundesweiten Vergleich besonders, weil viele der bisherigen Studien zu rechtsextremer Gewalt[1] zeigen, dass nur ein sehr kleiner Teil davon von Frauen begangen wird. In aller Regel sind es Männer – und eben vor allem junge Männer –, die zuschlagen, zutreten oder Menschen mit Waffen angreifen.

Was Mädel und Kühn drittens verbindet, ist, dass sie zwei der insgesamt neun Menschen sind, die in einem neuen Gutachten als weitere Todesopfer rechter Gewalt eingestuft[2] werden, die es in Thüringen seit 1990 gegeben hat. Bislang war nur der Tod eines Mann namens Karl Sidon als ein solcher Todesfall anerkannt worden. Er war 1993 in Arnstadt getötet worden.

Folgt man diesen Zahlen, wurden also in den vergangenen 35 Jahren nicht nur mindestens zehn Menschen aus rechtsextremen Motiven alleine im Freistaat getötet, obwohl zumindest Polizei und Justiz all die Zeit von einem Todesopfer ausgegangen waren. Jenseits dieser menschlichen Tragödien wird damit eben auch ein staatlich-gesellschaftliches Problem sichtbar: Die Zahl der aus solchen Motiven Getöteten wurde jahrzehntelang massiv unterschätzt, was ein Beleg dafür ist, wie sehr rechtsextreme Gewalt und deren Gefährlichkeit bis heute unterschätzt wird.

Erstellt hat dieses Gutachten ein Team von Wissenschaftlern des Instituts für öffentliche und private Sicherheit der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin in Kooperation mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam. Ein Jahr lang hatten sich die Wissenschaftler dafür durch Gerichtsurteile, Verfahrensakten von Polizei und Staatsanwaltschaften sowie zahlreiche weitere Quellen gearbeitet. Begleitet wurden diese Arbeiten durch einen Beirat, in dem Vertreter des Thüringer Innen- und Justizministeriums ebenso saßen wie unter anderem Vertreter der Opferberater von Esra und der Demokratieberater von Mobit.

Von 2022 bis 2023 hatte die Erstellung des Gutachtens gedauert, was insofern bezeichnend für den gesamten Themenkomplex ist, als dass die Erstellung einer solchen Studie bereits 2018 durch den Thüringer Landtag beschlossen worden war, mit den Stimmen der damaligen rot-rot-grünen Regierungskoalition. Und es noch einmal viele, viele Monate gedauert hat, bis das im Kern fertige Gutachten veröffentlicht worden ist.

Die Menschen, die nach den Einschätzungen des Papiers aus rechtsextremen Motiven heraus getötet wurden, lebten und starben in den verschiedensten Regionen des Landes. Weil rechtsextreme Gewalt eben kein Phänomen ist, das nur bestimmte Regionen Thüringens betrifft, auch wenn es auffällig ist, dass es in Suhl gleich zwei solcher Todesfälle gab. Keine andere Thüringer Stadt taucht zweimal in dieser unrühmlichen Liste auf.

Ireneusz Szyderski wurde 1992 in Stotternheim umgebracht. Nach Karl Sidon starb Rolf Baginski 1997 in Nordhausen. Jana G. wurde 1998 in Saalfeld, Axel Urbanietz 2001 in Bad Blankenburg und Hartmut Balzke 2003 in Erfurt getötet. Ein Jahr später starb dann Oleg Valger in Gera. Nach Kühne, der 2012 starb, wurde noch Mario K. getötet, 2020 in Altenburg.

Mit der Veröffentlichung des Gutachtens leben nun verschiedene politische und gesellschaftliche Debatten wieder auf, die in den vergangenen Jahren oft geführt worden sind, wenn Rechtsextreme Menschen angegriffen haben.

Da ist zum Beispiel die eher abstrakte Forderung danach, anzuerkennen, wie gefährlich Rechtsextremismus ist, und dass es keinen Grund gibt, diese Form des Extremismus zu relativieren, weil auch andere Radikale Menschen töten. »Viel zu oft wird ein rechtes Motiv bei Tätern nicht erkannt und dementsprechend nicht erfasst«, sagt zum Beispiel die Landesvorsitzende der Grünen, Ann-Sophie Bohm. »Die Gefahr der extremen Rechten in Thüringen wird immer noch massiv unterschätzt – nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch für die Sicherheitslage im Land.« Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) müsse sich deshalb fragen lassen, wo endlich ein umfassendes Maßnahmenprogramm gegen die extreme Rechte in Thüringen bleibt.

Auch grundsätzlich müsse endlich die Art und Weise verändert werden, wie Straftaten erfasst und klassifiziert werden, sagt Bohm. Dabei gehört allerdings auch zur Wahrheit, dass Maier schon Innenminister war, als die Grünen noch im Landtag und in der Landesregierung saßen und noch deutlich mehr Einfluss auf die Politik in Thüringen hatten als heutzutage.

Auf der eher individuellen Ebene steht die Forderung, die in dem Gutachten benannten Todesopfer auch formell durch den deutschen Staat als Opfer rechtsextremer Gewalt anzuerkennen. »Sie ist nicht nur fachlich geboten, sondern bedeutet für die Angehörigen auch die Rückgewinnung eines Teils jener Deutungshoheit, die ihnen staatlicherseits über Jahre verwehrt wurde«, sagt die Linke-Innenpolitikerin Katharina König-Preuss. Eine solche Anerkennung schaffe ein Stück symbolischer Gerechtigkeit und ermögliche es den Hinterbliebenen zudem, Härtefallleistungen beim Bundesamt für Justiz zu beantragen.

Vor allem aber verbindet sich mit der Veröffentlichung des Gutachtens auch wieder die Debatte darüber, was eigentlich rechtsextreme Gewalt ist – wobei die Studie zeigt, wie wichtig es ist, die Gesinnung der Täterinnen und Täter umfassend in die Bewertung der Tat einfließen zu lassen. Eine Gesinnung, in der viele Menschen abgewertet und eben nicht als Träger von universeller Würde anerkannt werden. Eine Gesinnung, die das Handeln der Täterinnen und Täter auch dann bestimmt, wenn sie nicht »Heil Hitler!« schreien, während sie andere Menschen ermorden.

Die beiden jungen Frauen, die Mädel töteten, hatten sich beispielsweise schon vor der Tat immer wieder abwertend über Homosexuelle geäußert. In den Gutachten heißt es, sie seien beide Teil einer Gruppe Jugendlicher gewesen, die immer wieder Homosexuelle belästigte – Menschen also, die Neonazis nicht als gleichberechtigte Menschen sehen und die im Nationalsozialismus gezielt verfolgt wurden. »Der Anlass für das Treffen der Gruppe Jugendlicher war es, Homosexuelle anzugreifen, was sie bereits in der Vergangenheit öfter getan hatten«, heißt es in dem Gutachten. Und weiter: »Heinz Mädel wurde von den beiden Täterinnen attackiert, weil sie ihn dieser Gruppe zuschrieben. Auch die enthemmte Gewaltausübung mit gezielten Tritten gegen Oberkörper und Kopf des Opfers ist ein Anzeichen für eine Vorurteilsmotivation.« Der Staat hat bislang so etwas nicht als Tatmotivation anerkannt.

Ähnlich ist es im Fall von Kühn. Er war im Alter von 59 Jahren von zwei Brüdern in Suhl ermordet worden. Kühn war arbeitslos und alkoholkrank und gehörte damit gleich zu zwei Menschengruppen, die es in der Neonazi-Ideologie nicht verdient haben zu leben. Erst forderten die beiden Täter – 17 und 23 Jahre alt – Geld von ihm, in seiner Wohnung, dann quälten sie ihn auf bestialische Art und Weise. Er starb an den Misshandlungen, wurde aber erst ein paar Tage nach seinem Tod in der Wohnung gefunden. Mindestens einer der Täter war wegen Hakenkreuz-Schmierereien vorbestraft.

Trotzdem galt auch Kühn – so unfassbar das klingen mag – bislang nicht als Todesopfer rechter Gewalt, war in der Polizeistatistik nicht als politisch motivierte Kriminalität (PMK) gelistet. »Auf Grundlage der Projektergebnisse ist es daher empfehlenswert, den Fall als PMK-rechts-Delikt nachträglich zu erfassen«, heißt es im Gutachten.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191025.rechte-gewalt-rechte-gewalt-die-enthemmung-ist-deutlich-spuerbar.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185058.rechte-gewalt-nrw-sieben-weitere-opfer-rechter-gewalt-offiziell-anerkannt.html