nd-aktuell.de / 01.12.2025 / Berlin

Entnazifizierung mit KI am Kottbusser Tor

»Vierte Welt« inszeniert provokante Performance über deutsche Vergangenheit – trotz Kürzungen

Laura Meng
Die Kürzungen im Kulturbereich sorgen im selbstverwalteten Kulturzentrum »Vierte Welt« für Unsicherheit.
Die Kürzungen im Kulturbereich sorgen im selbstverwalteten Kulturzentrum »Vierte Welt« für Unsicherheit.

Im »Zentrum Kreuzberg«, direkt am Kottbusser Tor, befindet sich der Projektraum »Vierte Welt« – ein Ort, der von Künstler*innen selbstverwaltet wird. Der Bühnenraum, der mit seinen niedrigen Decken und massiven Stützpfeilern die Blockarchitektur des »Zentrum Kreuzberg« weiterträgt, ist so unkonventionell wie die Veranstaltung, die hier vergangene Woche stattgefunden hat: eine interaktive Performance zu Entnazifizierung[1], unterstützt durch künstliche Intelligenz.

Das Projekt »Entnazifiziert euch! Eine AI Performance« wurde von Luce deLire, Callaz, Mario Bergmann und Annett Hardegen von der »Vierten Welt« ins Leben gerufen. Die Wahl von künstlicher Intelligenz als künstlerisches Mittel ist widersprüchlich – und bewusst eingesetzt. »KI ist im Endeffekt Diebstahl[2]. Es handelt sich hier um eine neue ursprüngliche Aneignung, insbesondere auf Kulturprodukte bezogen. Die Datensätze, die da reingespeist werden, sind eigentlich alle gestohlen«, erklärt Luce deLire im Gespräch mit »nd« das unkonventionelle Konzept.

Doch nicht nur künstliche Intelligenz stellt eine Bedrohung für Künstler*innen dar. Auch die Förderungsbedingungen für den Kunst- und Kulturbereich werden immer mehr eingegrenzt – gerade in Berlin: »Mit dem letzten Herbst, wo ja auch die ganzen Kürzungen angesetzt worden sind[3], ist es sehr schwierig geworden – in der freien Szene und im gesamten Kultur- und Bildungsbereich natürlich«, bemerkt Annett Hardegen, Mitbegründerin der »Vierten Welt«, gegenüber »nd«.

Die »Vierte Welt« selbst wird durch die Senatsverwaltung für Kultur und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Aber auch für die einzelnen Projekte, die hier entstehen, braucht es Gelder. »Wir haben als Ort eine Förderung und sind total darauf angewiesen, dass Projekte auch gefördert werden«, sagt Hardegen.

Auch der Zustand des Gebäudes stellt immer wieder ein Problem dar. »Das Haus ist tatsächlich in einem sehr maroden Zustand, der sich mit jedem Jahr verschlimmert, und man muss sagen, dass sich dieser Zustand, seit die Gewobag das Gebäude verwaltet[4], nicht verbessert hat«, so Hardegen. Das »Zentrum Kreuzberg«, besser bekannt unter seinem alten Namen »Neues Kreuzberger Zentrum«, wurde in den 70er Jahren erbaut und spannt sich in einem Halbkreis um den U-Bahnhof Kottbusser Tor. 2017 wurde es durch die städtische Wohnungsbaugenossenschaft Gewobag übernommen. Die Gegend rund um den »Kotti«ist heute einerseits durch Tourismus und kapitalistischen Konsum geprägt, andererseits sind auch Kriminalität, Drogenkonsum und Wohnungslosigkeit deutlich sichtbar.

In der »Vierten Welt« gibt es immer wieder Projekte, die sich mit dem Gebäude, oder der Wohnpolitik beschäftigen. Die aktuelle KI-Performance hingegen geht auf verschiedenen Gefühlsebenen, unterstützt durch unterschiedliche Medien, auf die Selbsterfahrung von Entnazifizierung ein. So werden juristische Texte aus den 50ern gelesen, wird ein Klagelied gesungen und an einem Glücksrad gedreht, das an diesem Donnerstagabend bei »Teppich« stoppt. Hier rollt deLire einen Teppich in den Raum – einen von drei Teppichen, die ihre Großmutter sich von dem Geld kaufte, das sie als Entschädigung für die Ermordung ihrer Mutter und Schwester in Theresienstadt bekam. Parallel dazu erarbeiten Callaz und Bergmann mithilfe verschiedener KI-Tools live während der Performance ein Musikvideo, zu dem das Publikum am Ende singt und tanzt.

»Mein Eindruck ist, dass beim Thema Nazivergangenheit[5] sehr viele Gefühle auf der Oberfläche liegen. Da wird es sehr, sehr schnell sehr, sehr awkward, peinlich, schuldbeladen«, so deLire. Genau mit diesen Gefühlen spielen die Künstler*innen in der Performance. »Es ist ja kein abgekartetes Theaterstück, sondern eine reale Performance, in der Vieles vom Input der Partizipierenden abhängt.« Spannend wäre für deLire auch, wenn durch den Glücksrad-Moment nicht ihre eigene Familiengeschichte, sondern auch andere Themen wie beispielsweise das Selbstbestimmungsgesetz[6] oder die »Genozid-Frage«[7] thematisiert würden.

»Die deutsche Art und Weise, mit der Nazi-Vergangenheit irgendwie umzugehen, ist einerseits oft eine, die 1945 aufhört. Und das ist ja in diesem Stück gar nicht der Fall, sondern es geht explizit um die Wiederaufarbeitungspolitik der 50er«, erläutert deLire die Idee hinter der Performance weiter.

Das Scheitern dieser Wiederaufarbeitungspolitik wird auch an vielen Stellen in Berlin deutlich. Ein anderes Beispiel, das deLire anbringt, ist der 1941/42 von Albert Speer erbaute Schwerbelastungskörper – auch Naziklotz genannt – in Tempelhof. Das zylinderförmige Betongebilde sollte einst die Tragkraft des Bodens prüfen, um später an dieser Stelle einen Triumphbogen zu errichten.

»Dieses Ding ist Anfang der 2000er für mehr Geld saniert worden, als es gekostet hatte, es zu bauen. Hier hält man sozusagen das Gedenken an Nazi-Architektur aufrecht, die eine Form von Faszination mit der technischen Leistung des Faschismus nährt.« An der einen Stelle werden Gelder in fragwürdige Projekte investiert, an anderen Stellen, wie im Kultursektor, fehlen sie. Hardegen blickt auf ein noch ungewisses nächstes Jahr in der »Vierten Welt«: »Bis jetzt haben wir eine ganz kleine Förderung mit einem Projekt. Also da sieht man eigentlich, wie drastisch die Lage ist.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188521.holocaust-die-profite-der-profiteure.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181358.popmusik-droht-die-ki-apokalypse-in-der-musik.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190467.kuerzungen-theater-ausgliederung-berlins-personalraete-drohen-mit-widerstand.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188405.stadtentwicklung-kottbusser-tor-wohnungen-in-landeshand-machen-mietern-probleme.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191126.ns-aufarbeitung-zwangsarbeiter-und-hausschwangere.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194008.selbstbestimmungsgesetz-queere-community-angst-vor-rosa-listen-und-faschisierung.html
  7. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194323.un-untersuchung-nicht-nur-eine-symbolische-entscheidung.html