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Deutschland liefert libyschen Milizenführer aus
Verdächtiger an Internationalen Strafgerichtshof übergeben – Italien hatte in ähnlichem Fall Haftbefehl missachtet
Am Montag hat Deutschland den libyschen Staatsbürger Khaled Mohammad Ali Al-Hischri an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) übergeben. In einem am 10. Juli erlassenen Haftbefehl wirft ihm das Gericht in Den Haag Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor, die zwischen Februar 2015 und Anfang 2020 in einem Gefängnis in Tripolis begangen worden sein sollen. Al-Hischri war eine Woche nach Erlass des Haftbefehls bei seiner Einreise am Flughafen Berlin Brandenburg von der Bundespolizei festgenommen worden. Seine Auslieferung markiert einen Wendepunkt.
Nach Angaben des Gerichtshofs war Al-Hischri, auch bekannt als »Al-Buti«, einer der ranghöchsten Beamten im für Verbrechen berüchtigten Mitiga-Gefängnis. Er soll dort den Frauentrakt geleitet haben. Al-Hischri wird vorgeworfen, persönlich Mord, Folter, Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt begangen, angeordnet oder überwacht zu haben. Al-Hischri ist Mitglied einer sogenannten »Spezialeinheit für Abschreckung zur Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität«, besser bekannt als Al-Radaa, einer mächtigen Miliz unter dem Präsidialrat Libyens.
Die Auslieferung markiert einen Wendepunkt in den stockenden Bemühungen um strafrechtliche Verfolgung schwerer Völkerrechtsverbrechen in Libyen – es könnte der erste Fall sein, der nun in Den Haag zu einem Prozess führt. IStGH-Registrar Osvaldo Zavala Giler dankte deshalb den deutschen Behörden für ihre »starke und konsequente Zusammenarbeit« mit dem Gerichtshof. Eine Anhörung für Al-Hischris erste Vorführung vor Gericht soll zeitnah angesetzt werden.
Bereits kurz nach der Festnahme im Juli hatten mehrere Menschenrechtsorganisationen in einem offenen Brief die rasche Auslieferung gefordert. Zu den Unterzeichner*innen zählten Human Rights Watch, das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) sowie Sea-Watch. In dem Schreiben nannten sie Al-Hischris Verhaftung ein wichtiges Signal für Überlebende. Zugleich warnten sie, dass mangelnde Zusammenarbeit von Staaten mit dem IStGH nicht nur die Bemühungen um Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen untergrabe, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs selbst.
Der Fall Al-Hischri steht in deutlichem Kontrast zum Umgang Italiens im Fall des ebenfalls aus Libyen stammenden Osama Nadschim. Im Januar 2025 hatten italienische Behörden den als »Al Masri« bekannten Milizenführer festgenommen, ebenfalls ein hochrangiges Mitglied von Al-Radaa und mutmaßlicher Täter im Mitiga-Gefängnis. Ihm werden ähnliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, darunter Mord, Folter und Vergewaltigung von Häftlingen.
Der IStGH hatte am 18. Januar einen Haftbefehl gegen Al-Masri erlassen. Trotz seiner Verpflichtung als Vertragsstaat des Römischen Statuts übergab Italien ihn jedoch nicht an Den Haag. Stattdessen wurde der als Verbrecher international Gesuchte nur 48 Stunden nach seiner Verhaftung in Turin mit einem Flugzeug der italienischen Regierung nach Libyen zurückgebracht, wo er von Vertretern staatlicher Institutionen und bewaffneten Milizen empfangen wurde. Oppositionsparteien warfen Italiens Regierung vor, mit der Nichtüberstellung von Osama Al Masri italienische Energieinteressen schützen und Vergeltungsmaßnahmen vermeiden zu wollen – etwa indem Libyen seine Zusammenarbeit zur Migrationskontrolle wieder einschränkt.
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Der IStGH prüft derzeit, ob Italien durch die Freilassung Al-Masris seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzt hat. Ein Ministerialgericht in Rom hatte dazu im August beantragt, die Immunität von drei Minister*innen aufzuheben – doch das von der Regierungsmehrheit dominierte Unterhaus lehnte dies Anfang Oktober ab.
In einer unerwarteten Wendung hatte jedoch die libysche Regierung in Tripolis Osama Al-Masri Anfang November erneut festnehmen lassen. Die Generalstaatsanwaltschaft Libyens teilte dazu mit, es gebe ausreichende Beweise, um ihm den Prozess zu machen. Ermittlungen hätten Verstöße gegen die Rechte von Inhaftierten aufgedeckt, einschließlich der Folterung von mindestens zehn Häftlingen und des Todes eines Insassen infolge von Folter. Dem Vernehmen nach könnte Al-Masri nach Den Haag ausgeliefert werden. Dies wäre ein Imagegewinn für die libysche Regierung, die in der Europäischen Union derzeit wegen brutaler Einsätze ihrer Küstenwache gegen Geflüchtete und zivile Seenotretter*innen in der Kritik steht.
Auch die stellvertretende IStGH-Anklägerin Nazhat Shameem Khan erklärte Ende November vor dem UN-Sicherheitsrat, es gebe »einen neuen Schwung in Richtung Gerechtigkeit in Libyen«. Zu lange hätten Verbrechen in Hafteinrichtungen eine Tabuzone für strafrechtliche Verantwortung dargestellt.
Der IStGH untersucht die Situation in Libyen nach eigenen Angaben seit März 2011, nachdem der UN-Sicherheitsrat das Thema mit einer Resolution an den Gerichtshof verwiesen hatte. Im Mai 2025 akzeptierte Libyen die internationale Gerichtsbarkeit über sein Territorium für die Jahre 2011 bis Ende 2027. Trotzdem bleiben insgesamt acht Haftbefehle des IStGH im Kontext der Libyen-Ermittlungen ausstehend.
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