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»Sentimental Value«: Kino der Intimität
»Sentimental Value« gewann 2025 in Cannes den Großen Preis der Jury. Das Skript ist jedoch geprägt vom männlichen Blick und nicht frei von Geniekult
Das Filmemachen ist auch nicht mehr das, was es mal war. Sein möglicherweise letztes Projekt scheint der norwegische Autorenfilmer Gustav nur mithilfe von Netflix, Instrumenten aus der Werbeindustrie und dem US-Serienstar Rachel (die sich nach einer Rolle mit mehr Tiefe sehnt) realisieren zu können. Dass der Film dann nicht im Kino laufen wird, will der arme alte Mann nicht wahrhaben. Noch schlimmer ist, dass seine undankbare Tochter Nora, eine gefeierte Theaterschauspielerin, die Rolle, die er ihr auf den Leib geschrieben hat, nicht übernehmen und auch sonst nichts mit ihm zu tun haben will.
Früher waren die Töchter noch gefügiger. Die jüngere Agnes, die inzwischen eine eigene Familie gegründet hat und sich als große Kümmerin auch um Schwester und Vater bemüht, hat als Kind in einem von Papas Filmen mitgemacht. Doch seitdem war der Narzisst und schmierige Charmeur alter Schule nicht für seine Kinder da, was ihm besonders Nora heute vorwirft, die unter Depressionen und Panikattacken leidet und jenseits der Kunst keine Erfüllung findet.
Am Ende wird der Vater zum Regisseur des Lebens seiner Töchter.
Joachim Triers »Sentimental Value« beginnt damit, wie der so lange abwesende Vater in die Trauerfeier für seine Exfrau hineinplatzt und verkündet, das Familienhaus als Drehort für sein autobiografisches Werk nutzen zu wollen. Das Haus ist im Lieblingsfilm der Jury von Cannes als Beobachter des Familienlebens über mehrere Generationen (teils in Schwarzweiß-Rückblenden) in Szene gesetzt. Überhaupt strotzt das Drehbuch, das der Norweger zusammen mit seinem alten Kumpel Eskil Vogt entwickelt hat, vor Einfällen und Verspieltheit. Leinwand und Leben vermischen sich elegant. Es gibt Theaterstücke und mehrere Filme im Film, was das Publikum oft erst im Nachhinein merkt: Ist der Weinkrampf jetzt echt oder eine Szene beim Dreh? Anderes wirkt überfrachtet und unausgegoren, etwa die unmotiviert sporadisch eingesetzte Off-Erzählerin, eingestreute Aufnahmen von Akten aus der Zeit der norwegischen Besatzung und Überblendungen der Gesichter von Vater und Töchtern.
Inhaltlich tendiert alles in Richtung Versöhnung: Rachel, die nun anstelle Noras Gustavs Mutter verkörpern soll, macht sich im Zuge der Proben viele Gedanken über seine Motivation und entwickelt Mitgefühl für den altersmilden Patriarchen, den die Umstände – seine Mutter nahm sich das Leben, als er sieben Jahre alt war – zum Arschloch machten. Die Historikerin Agnes geht noch weiter zurück und studiert in den Archiven die Geschichte ihrer Oma, die als NS-Gegnerin gefoltert wurde, und es ist atemberaubend, die bewegte Mimik von Inga Ibsdotter Lilleaas (die Entdeckung neben den Stars Renate Reinsve und Stellan Skarsgård) während der Lektüre der Akten zu verfolgen. Die Zerrüttung der Familie, das Versagen des Vaters haben also ihren Grund. Noch mehr wandelt sich das Bild, als Agnes Papas Drehbuch liest: Es handle, eröffnet sie ihrer Schwester, von ihr, Nora, und zeige, dass der Vater sie so genau kenne, als wäre er gar nicht abwesend gewesen.
Joachim Trier, der selbst aus einer, wie er sagt, cineastischen Familie stammt, will zwar Raum für Interpretation lassen, das Skript ist jedoch geprägt vom männlichen Blick und nicht frei von Geniekult. Künstlernaturen (das gilt für den Regisseur wie für die Schauspielerinnen im Film) müssen eben eine randständige Existenz außerhalb von Norm und Gemeinschaft erleiden; da kann man über ihre Bindungsunfähigkeit und gestörte Kommunikation getrost hinwegsehen – so wie die beiden Töchter die zweifelhaften Komplimente, die der lädierte Gustav einer Krankenschwester macht, erleichtert bekichern. Dass aber der Vater in seiner Kunst quasi therapeutische Qualitäten entwickeln und auf der Leinwand die Sprache und Empathie finden soll, die ihm in seinem Sozialleben fehlen, ist eine unglaubwürdige Überhöhung. Triers »Kino der Intimität, das sich dem menschlichen Gesicht nähert und die menschliche Erfahrung ehrlich« betrachten will, vermag hier vor allem dank der drei starken Hauptdarsteller*innen in den Bann zu ziehen, die besonders in den vielen Sequenzen ohne Worte brillieren.
Am Ende hat der Vater die Fäden wieder in der Hand, er wird zum Regisseur des Lebens seiner Töchter. Und die spielen mit.
»Sentimental Value«: Norwegen / Frankreich / Dänemark / Schweden / Deutschland 2025. Regie: Joachim Trier, Buch: Joachim Trier, Eskil Vogt. Mit: Renate Reinsve, Stellan Skarsgård, Elle Fanning, Inga Ibsdotter Lilleaas. 133 Min. Kinostart: 4. Dezember.
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