- Kultur
- Spaß und Verantwortung
Das Leseherz blutet
Hiermit erscheint die letzte Ausgabe der geliebten Kolumne "Spass und Verantwortung"
Fast 100 Kolumnen hat Olga Hohmann in den vergangenen Jahren für das »nd« geschrieben. »Spaß und Verantwortung« hatte sie sich als Titel gewünscht. Für mich klang es immer, als würde sie sich über die pastorale Festrednerformel der politischen Klasse von »Freiheit und Verantwortung« lustig machen. Dabei wollte sie sich eigentlich vielmehr im ehemals »Neuen Deutschland« über das »neue Deutschland« der Start-ups und »Kreativagenturen« mit ihrer Schaumsprache lustig machen (»If we improve our team performance, we can move mountains«). Und nicht zuletzt auch ein bisschen über sich selbst. Doch was sie in den Kolumnen gemacht hat, war weit mehr als das: Olga hat in ihren Texten eine Welt ausgebreitet. Eine Welt, in der aufgesammelte Geschichten, ihre Erlebnisse und ihre Privatmythologie innigst miteinander verknüpft sind. Der Olga-Kosmos.
Olga hat uns auf eine Reise mitgenommen. Eine Reise durch die Welt der »New Work« und des performativen Freizeitvergnügens im Herzen von Berlin. Wir sind ihren Neurosen und Obsessionen begegnet und wurden mit ihren Rauschmitteln und Unfällen vertraut. Wir haben sie in schlaflosen Nächten und bei Herzschmerz begleitet und sind ihrer Begeisterung für Espresso Martini und Notizzettel gefolgt. Wir haben sie kiffend in Amsterdam, kaffeetrinkend in New York oder studierend in Rotterdam erlebt, auf der Frankfurter Buchmesse oder als Kreuzberger Salondame. Und wir rasten mit ihr auf dem Rennrad zwischen verschiedenen Mini- und Nebenjobs hin und her, standen an der Käsetheke, führten durch Museen, kellnerten in Sternerestaurants oder machten in einer der »Kreativagenturen« etwas, das sich »Office« nannte.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.
Man hat Ängste beim Wandern durchstanden, sich Tarotkarten legen lassen (natürlich der »Hofnarr«!) und To-do-Listen erstellt. Einen Taschendieb am Kottbusser Tor gestellt, Mitleid für Kohl gehabt und ein Trendgetränk zu erfinden versucht (»Wodka Rotbäckchen«). Im Spa gelitten, dem Finanzamt die Tür geöffnet (oder war es doch eine Trickbetrügerin?) und auf einer Heilmatratze namens Bruno gelegen. Saß am Tresen, flanierte durch Karstadt am Hermannplatz und fuhr schwarz (und wurde erwischt). Besuchte Friedhöfe und Shoppingmalls, das Urban-Krankenhaus und die Glitzer-Dildo-Sammlung des Nachbarn, türkische Cafés in der Oranienstraße, polnische Katholiken und die Berlin Art Week. War in einem italienischen Schnellzug, als der Blitz einschlug, auf der Couch beim Fernsehen (»Simpsons« oder »Sissi«) oder beim Psychoanalytiker. Hat geflirtet und geweint (viel geweint). Und die Plastik-Kalaschnikow eines Filmstudenten im Badezimmer verstaut.
Man hat beim Lesen der Kolumnen den Eindruck, dass Olga nichts verschweigt und nichts versteckt. In einer Zeit, die uns unaufhörlich auffordert, die beste Version unseres Selbst zu sein, während die Folgeschäden dieses neoliberalen Psychoterrors entweder schamvoll verschwiegen oder erneuert in das Hamsterrad der Selbstoptimierung eingespeist werden, haben bei ihr auch die Lust am Scheitern und immer wieder aufblitzender Lebensüberschuss (und auch gelegentlicher -überdruss) einen Platz. 1992 geboren, ist Olga mit der Gewissheit aufgewachsen, dass die ideologischen Formen unserer Gegenwart in unsere Lebensformen eingesickert sind. Indem sie selbst geradezu lustvoll dieses Einsickern thematisiert hat, verliert es an Unausweichlichkeit, ist weniger drohend und lähmend. So ist Olgas Schreiben etwas wie ein schelmischer Gegenzauber.
Wird man eines Tages wissen wollen, wie die Twenty- oder Thirty-something-Großstadtbewohner Anfang der 2020er Jahre gelebt und gefühlt, geträumt und gearbeitet haben, so wird man ihre Kolumnen lesen. Vom Vergnügen abgesehen, bieten sie jede Menge Anschauungsmaterial für mentalitätsgeschichtliche Studien. Ihre Texte wurden deswegen schon mit denen von Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Mascha Kaléko verglichen, sie »spüren den Seltsamkeiten und Abgründen der Gegenwart im Privaten wie im Politischen mit einem ganz eigenen erzählerischen Ton nach«, hieß es in der »FAZ«.
Und auch wenn mein Leseherz blutet, dass diese Kolumne (die ich anfangs noch betreuen durfte) nun ein Ende gefunden hat, so weiß ich auch, dass es für die Autorin Olga Hohmann nur ein Anfang war. Allein in letzter Zeit sind mehrere Bücher von ihr erschienen, wie »The Overview Effect« (mit Florian Endres), »In deinem rechten Augen wohnt der Teufel« oder »Stressed Desserts« (mit Chiara Marcassa). Von Olga Hohmann wird man noch lesen! Oder wie die »Kreativen« dazu sagen: »Let’s get these balls rolling!«
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