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Verhängnisvolles Schubladendenken
Mithu Melanie Sanyal schüttelt über den »Islamexperten« Ahmad Mansour nur den Kopf
Mir fällt kein Witz dazu ein, also müssen stattdessen die Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen: Antimuslimische Übergriffe sind im vergangenen Jahr um 60 Prozent angestiegen auf 3080. Das sind mehr als acht pro Tag, über 70 Angriffe auf Moscheen, 198 schwere Körperverletzungen und zwei Morde. Und was unternimmt die Bundesregierung dagegen? Sie besetzt ihre Task Force zur Bekämpfung von Islamismus neu: Man wolle der Erzählung, Muslime seien Opfer einer rassistischen Mehrheitsgesellschaft, etwas entgegensetzen, mit dem Narrativ würden radikale Gruppen Anhänger ködern. Ich sag’ doch: Kein Witz!
Nicht fehlen in der neuen Truppe darf natürlich Ahmad-»antimuslimischer-Rassismus-ist-ein-gefährlicher-Kampfbegriff«-Mansour. Ich saß einmal mit Mansour auf einem Podium und mochte ihn. Er wirkte auf mich unsicher und – ohne ihn pathologisieren zu wollen – traumatisiert. Wie er allerdings nicht wirkte, war wie ein Mensch, der genügend Abstand zu seinem Thema hat, um es fair und unbefangen analysieren zu können. Warum wird er dann als »Extremismus-Experte« von Talkshow zu Talkshow gereicht und von Beratergremium zu Task Force? Weil er die gesellschaftlichen Vorurteile über Muslime wie ein Papagei wiedergibt (und noch eins draufsetzt) und sich so niemand rassistisch fühlen muss, weil der Muslim das ja selbst gesagt hat.
Als das von ihm geleitete Projekt »Dis_Ident« gegen Antisemitismus und islamistische Radikalisierung vom Forschungsministerium gefördert werden sollte, kamen die Wissenschaftler, die dessen Antrag für das Ministerium prüften, einer Recherche von CORRECTIV zufolge zu dem Ergebnis, dass das Projekt »nicht förderungswürdig« sei, weil es nicht nur »wissenschaftliche Standards verletzt«, sondern auch einen »defizitorientierten Blick auf Menschen mit Migrationsbiographien« habe, sprich: rassistisch ist. Was machte das Ministerium also? Richtig: Es fördert das Projekt dennoch seit Juli mit knapp neun Millionen Euro.
Mithu Melanie Sanyal ist Schriftstellerin, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, Tochter eines indischen Ingenieurs und einer polnischstämmigen Sekretärin, aufgewachsen in Düsseldorf. In ihren Sachbüchern und Romanen – ihr erster: »Identitti« war ein Riesenerfolg, in ihrem zweiten: »Antichristie« geht es um den bewaffneten Kampf gegen das Empire –, in Hörspielen und Essays verhandelt sie Fragen von Feminismus, Rassismus und sexueller Gewalt. Was Mithu Sanyal veröffentlicht, löst Debatten aus, und zwar ergiebige. Sie wird für uns über alles zwischen Alltag, Politik und Literatur schreiben.
Man könnte meinen, der Staat hat zu viel Geld. Und jetzt halt Millionen für die Task Force gegen Islamismus. Natürlich müssen wir Islamismus ernst nehmen. Doch der federführende parlamentarische Staatssekretär Christoph de Vries erklärt: Das Ministerium wolle nicht nur den gewaltbereiten Islamismus, sondern auch den »legalistischen Islamismus« ins Visier nehmen. What the fuck is legalistischer Islamismus? Wie sich herausstellt, bezieht sich das auf Muslime, die mit juristischen Mitteln versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen, indem sie zum Beispiel klagen. Was ist aus »Vor Gericht sind alle Menschen gleich« geworden? Oder findet de Vries etwa, dass Muslime keine Menschen sind? Sorry, das war jetzt eine Unterstellung. Aber genau das machen schwammige Begriffe wie legalistischer Islamismus selbst. Massiv. Sie unterstellen. Wer weiß schon, ob die Muslima, die gegen Rassismus klagt, nicht eigentlich »einen juristischen Jihad führt«?
Und auch das war kein Witz, sondern ein echtes Zitat eines Kollegen, den ich aus kollegialen Gründen nicht nennen werde. Denn wenn wir erst einmal anfangen, mit dem Finger aufeinander zu zeigen, kommen wir nur noch schwer aus den Schubladen heraus, in die wir uns gegenseitig stecken.
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