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Zocken um Datenschutz
Menschen mit Behinderung befinden sich im Zwiespalt von Teilhabe und Datensicherheit
»Ich habe wenig geschlafen, und das liegt nicht an meinem neugeborenen Sohn. Ich zocke gerne«, sagt Erdin Ciplak. Er steht dabei regelmäßig vor Hürden, denn auch drei Zentimeter vom Bildschirm entfernt kann Ciplak nur zwei Prozent des Bildes erkennen. Inzwischen unterstützt ihn dabei Künstliche Intelligenz (KI) in Form eines Live-Assistenten. »Steht dort ein Text? Und welcher? Ist dort drüben eine Tür?«, fragt er die KI – und kann sich sein Spiel durch die Antworten besser vorstellen.
Ciplak ist besser bekannt als »Mr. BlindLife« (deutsch: Herr BlindesLeben). Auf diversen Kanälen sozialer Medien veröffentlicht er humoristische Videos über seinen Alltag als gesetzlich blinde Person – oder auch klassischen Gaming-Content. Er filmt sich zum Beispiel dabei, wie er GTA zockt, eine der weltweit erfolgreichsten Computerspielserien.
Die KI assistiert ihm nicht nur in spielerischen Kontexten, sondern in vielen Bereichen seines Lebens. Sie erklärt ihm unter anderem, wo er im Supermarkt Windeln findet. »Blindes Vertrauen sollte man aber nicht haben«, sagt Ciplak und lacht über seinen Witz.
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Er sitzt mit anderen Influencer*innen mit Behinderung im Berliner Google-Zentrum. Sie haben sich dort auf Einladung des Konzerns und der Soziallotterie Aktion Mensch versammelt, um sich über ihre Erfahrungen mit KI auszutauschen, Denkanstöße zu liefern und zu sehen, woran das Münchner Zentrum für Barrierefreiheit von Google gerade arbeitet. Der Konzern sucht nach neuen sogenannten »Use Cases«. Das sind in der technologischen Entwicklung Szenarien, in welchen Produkte angewandt werden können – also weitere Verkaufsoptionen.
»Wir sind daran gewöhnt, andere Wege zu gehen.«
Siegfried Saerberg Disability Studies
In den USA nimmt der Konzern derlei Maßnahmen inzwischen zurück. Anfang 2025 verkündete er, keine Einstellungsziele mehr zu verfolgen, die an Diversität gebunden sind und prüfte Schritte zu seinem DEI-Handlungsrahmen. DEI steht für »Diversity«, »Equity« und »Inclusion«, also »Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion«. US-Präsident Donald Trump forderte nach seinem Regierungsantritt wiederholt dessen Abschaffung.
Im Berliner Google-Zentrum halten sich die Influencer*innen indes nicht mit Kritik an den technologischen Entwicklungen zurück. Bei der Routenplanung der Kartendienste gibt es keine Angaben zu Oberflächen der Wege, sodass Personen im Rollstuhl oft buchstäblich feststecken. Personen mit kognitiver Beeinträchtigung können viele Anwendungen nicht nutzen, weil Angebot und Design überfordern. Und wie sieht es eigentlich mit intersektionalen Suchfunktionen aus, fragt Adina Hermann von der NGO Sozialheld*innen. Sie sitze schließlich nicht nur im Rollstuhl, sondern sei auch Mutter und würde gerne barrierefreie Lokale mit Spielecke recherchieren. »So ist das Leben, man hat ja nicht nur eine Anforderung«.
Für eine einfachere Nutzung der Anwendungen würden viele der Anwesenden auch Einschnitte im Datenschutz akzeptieren, erwähnen sie immer wieder. Quasi Daten als Bezahlung für weniger Hürden und mehr Teilhabe. Dass dieses Dilemma durch das Fortschreiten von Digitalisierung und KI nicht weniger wird, zeigt ein Entscheid des Hamburger Sozialgerichts im Januar 2025.
Damals hatte ein Leistungsbezieher mit Sehbehinderung gegen das Jobcenter geklagt. Er hatte dieses dazu aufgefordert, ihm Daten digital und unverschlüsselt zuzusenden, damit er dafür eine Vorlesefunktion anwenden könne. Eine Übermittlung in Papierform oder eine elektronische Verschlüsselung waren ihm nicht zugänglich. Das Jobcenter lehnte das ab, berief sich auf datenschutzrechtliche Vorgaben und verlor. Dem Urteil zufolge hat der Kläger durch seine Behinderung ein berechtigtes Interesse an dieser Form der Kommunikation.
Die digitale Barrierefreiheit in Deutschland sollte das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz stützen, das diesen Juni in Kraft getreten ist. Seit diesem Sommer müssen Unternehmen Produkte und Dienstleistungen wie Computer, Router und Geldautomaten beziehungsweise Messenger-Dienste oder auch Apps so anbieten, dass sie von allen Menschen bedient werden können. Anderenfalls leisten sie Strafzahlungen. Zuvor galten derlei Vorschriften für öffentliche Einrichtungen.
Aufgrund der Umstände und Zwecke der Datenverarbeitung kann es aber auch zu einer Reduzierung des Sicherheitsniveaus kommen. Was bedeutet das in weiterer Folge für die Verteilung von Datenmacht? »Abstrakt betrachtet geht es hier um den Konflikt von zwei Gütern«, sagt Siegfried Saerberg im Gespräch mit »nd«. Er ist Professor für Disability Studies an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Hamburg. »Im Privaten muss man Wege finden, um das auszuhandeln.«
Generell sei die Thematik keine, die erst mit neuen Technologien aufgekommen sei. So seien Personen mit Sehbehinderung oder Lernschwäche schon beim Empfang von Briefen darauf angewiesen, diese von einer weiteren Person vorgelesen zu bekommen und so Dritte in sensible Daten miteinzubeziehen. »Wir sind daran gewöhnt, andere Wege zu gehen«, sagt Saerbgerg. »Der Datenschutz wird im Alltag zu einer Barriere, wo diese zu groß ist, fällt die Güterabwägung bei mir und vielen, die ich kenne, praktisch dagegen aus.«
Die Beauftragten des Bundes und der Länder für die Belange von Menschen mit Behinderungen verabschiedeten dazu im November die »Hamburger Erklärung«. Darin fordern sie eine konsequente Digitalisierungspolitik auf Basis der Grundrechte und der UN-Behindertenrechtskonvention, um Menschen mit Behinderungen eine barrierefreie Nutzung digitaler Technologien und umfassende digitale Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Dort, wo digitale Angebote noch nicht ausreichen, brauche es der »Hamburger Erklärung« zufolge analoge Lösungen.
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