Ernst Thälmann jenseits von Verklärung und Verdammung

Ronald Friedmann hat eine Biografie über Ernst Thälmann gewagt

Abgestellt und doch anwesend: Thälmann im Garten des Technikmuseums Magdeburg
Abgestellt und doch anwesend: Thälmann im Garten des Technikmuseums Magdeburg

Es ist still geworden um ihn. Er scheint vergessen – nach den heftigen Auseinandersetzungen um ihn und sein Bild in der Geschichte, die vor 35 Jahren teils in Bilderstürmerei mündeten. Doch nun ist er wieder da: Ernst Thälmann. Dank Ronald Friedmann. Der Berliner Historiker hat eine voluminöse Biografie des Mannes verfasst, der von 1925 bis zu seiner Verhaftung im März 1933 an der Spitze der KPD stand, »durch sein Tun und Lassen den deutschen Parteikommunismus entscheidend geprägt«, mit dessen Namen die politischen Erfolge der KPD in der Weimarer Republik, aber auch eklatante Fehlentscheidungen verbunden waren und der nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland zu einem Symbol des antifaschistischen Widerstandskampfes wurde.

Es ist die erste ausführliche Biografie seit über einem halben Jahrhundert, die sich nicht nur ob neuer Aktenfunde und Forschungserkenntnisse gravierend von jener im IML, im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, entstandenen unterscheidet, sondern auch inhaltlich. Sie holt Thälmann vom Sockel, auf den ihn die Parteihagiografie gestellt hatte. In den 90er und Anfang der 2000er Jahre sind zwar einige biografische Skizzen und gar ein zweibändiger, über tausend Seiten umfassender »Report« erschienen, wohlwollend, verteidigend – Reaktion auf üble antikommunistische Publikationen. Friedmann zeichnet nun ein Porträt jenseits von Verklärung und Verdammung. Und wie groß das Interesse an Thälmann noch heute ist, bewies die Schar der zur Buchvorstellung erschienenen historisch Interessierten, die der Konferenzraum der Hellen Panke im Berliner Prenzlauer Berg kaum zu fassen vermochte.

Klar, an Thälmann scheiden sich die Geister nach wie vor. Was auch an der Mimik einiger Teilnehmer und mancher Intervention aus dem Publikum am vergangenen Donnerstag erkennbar war. Mit einer ungeschminkten, wahrhaftigen Biografie riskiert man halt, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Friedmann war sich des Wagnisses bewusst und doch willens: »Hundert Jahre nach dem von der Kommunistischen Internationale in Moskau verfügten Aufstieg Thälmanns an die Spitze der KPD ist es höchste Zeit, einen neuen und differenzierten Blick auf das Leben und Wirken Thälmanns zu werfen.« Und das tut er, detailgetreu und akribisch durch Akten sowie zahlreiche Zeitzeugenberichte belegt.

Der Autor, Mitglied des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linken, hat sich einen Ruf als sachkundiger und sachlicher Biograf schillernder kommunistischer Persönlichkeiten erworben, darunter des sogenannten Atomspions Klaus Fuchs, von »Ulbrichts Rundfunkmann« Gerhart Eisler oder der Komintern-»Weltreisenden« Arthur Ewert und dessen Frau Elise, genannt »Sabo«. Vor fünf Jahren veröffentlichte er eine Studie zur Wittorf-Affäre 1928, dem Finanzskandal, der die KPD und die Kommunistische Internationale erschütterte und fast das politische Aus für Thälmann bedeutet hätte. Friedmann konnte anhand bis dahin unbekannter Dokumente belegen, dass dieser über die Veruntreuung von Parteigeldern im KPD-Bezirk Wasserkante wusste und seinen Freund John Wittorf (nicht Schwager, wie vielfach kolportiert) viel zu lange deckte.

Natürlich fehlt dieser Skandal in der jetzt vorliegenden Biografie nicht. Mancher Leser oder manche Leserin wird sich neugierig auf dieses Kapitel stürzen. Oder auf das zum »Deutschen Oktober«. »Keine andere Episode im Leben von Ernst Thälmann ist so von Legenden umwoben und hat so zum Mythos des ›Barrikadenkämpfers‹ und ›revolutionären Helden‹ beigetragen wie der Hamburger Aufstand vom 23. bis 25. Oktober 1923«, schreibt Friedmann. »Und das, obwohl Thälmann keineswegs die Rolle gespielt hatte, die ihm über Jahrzehnte hinweg von Parteihistorikern zugeschrieben wurde. Mehr noch: Verlauf und Ergebnisse des Hamburger Aufstandes machen deutlich, dass Thälmann als maßgeblicher Funktionär der Hamburger KPD in den Oktobertagen 1923 in mehrfacher Hinsicht versagt hatte.« Bis heute sei nicht wirklich geklärt, wie und warum es überhaupt in Hamburg zu einer bewaffneten Erhebung kam, die etwa hundert Todesopfer und mehrere Hundert Verletzte kostete.

Fakt ist, bei einer Kundgebung in Moskau am 18. September 1923, verkündete Thälmann unter frenetischem Jubel, dass die »revolutionäre Stimmung« in Deutschland rasch anwachse. Das Land befinde sich am »Vorabend der Revolution.« Er behauptete gar: »Die Revolution in Deutschland wird ein Signal für die kommunistische Weltrevolution sein.« Anfang Oktober 1923 wurden dann, so Friedmann, unter seinem Namen in der Moskauer Zeitung »Gudok« zwei Artikel veröffentlicht, die den unmittelbar bevorstehenden Sieg der proletarischen Revolution in Deutschland verhießen.

Thälmann auch in der deutschen Novemberrevolution von 1918 nicht die später suggerierte Rolle. Konnte er nicht. Die war in Hamburg vorbei, als er dort ankam, desertiert von seiner Einheit am buchstäblich letzten Kriegstag. Die weiteren, entscheidenden Ereignisse fanden im fernen Berlin statt.

Von Thälmann sind zwei biografische Selbstauskünfte überliefert, darunter ein »Gekürzter Lebenslauf«, wie dieser seine Aufzeichnung in Kerkerhaft 1934 titelte. Ein aufschlussreiches Dokument, das tief in die Psyche blicken lässt. Wobei, das sei betont, manche Äußerungen im Kontext der Bedingungen, in denen sie niedergeschrieben wurden, zu werten sind. Vor allem unter wessen Augen. Etwa, wenn Thälmann beteuert, dass »ich kein Drückeberger, Angsthase und Feigling gewesen bin und als Etappenhengst keine Ruhe und Befriedigung fand«. Und auf seine Auszeichnungen, das millionenfach verteilte Eiserne Kreuz und noch häufiger gestreute Verwundetenabzeichen verwies. Es schien ihm wichtig, dies seinen Peinigern mitzuteilen. Gegenüber seinen Genossen hat er hingegen mit seinen Weltkriegsauszeichnungen nie geprahlt. Wegen »Beleidigung, Gehorsamsverweigerung und Achtungsverletzung« ist er 1916 zu zwei Wochen strengem Arrest verurteilt worden. Friedman bekräftigt, dass Thälmann »zweifelsohne ein erklärter Kriegsgegner war und aus seiner Ablehnung des Krieges nie einen Hehl machte«.

Andere Passagen im »Gekürzten Lebenslauf« dürften heutige Leser und vor allem Leserinnen mehr irritieren. Und zwar jene, in denen sein Frauenbild zum Ausdruck kommt, ohne Not notiert. So urteilte er über seine Schwester, sie habe im Gegensatz zu ihm »keine Freude an der Schularbeit« gehabt, sei »äußerst phlegmatisch« gewesen, weshalb sie in der vierten Klasse abgehen musste. Thälmann konnte oder wollte nicht begreifen, merkt Friedmann an, dass ein Mädchen aus einer kleinbürgerlichen Familie, der er – entgegen der späteren Legende einer proletarischen Herkunft – entstammte, seinerzeit kaum eine andere Wahl hatte, als im Geschäft der Eltern und im Haushalt zu malochen, bevor sie Ehefrau und Mutter wurde, wo sie Gleiches erwartete.

Seine antiquierte (in der kommunistischen Bewegung längst überwundene) Sicht auf Frauen widerspiegele sich auch im Verhältnis zu seiner Gattin, kritisiert der Biograf, der Rosa Thälmann, Tochter eines Schuhmachers, tatsächlich in ärmlichen Verhältnissen mit acht Geschwistern aufgewachsen und vermutlich früher politisiert als er, einen eigenen, mitfühlenden Exkurs widmet. Thälmann habe sie nie nach Berlin geholt, wo er alsbald fast ununterbrochen wohnte, nicht einmal zu einer Kur in die Schweiz mitgenommen. Sie war für ihn aber eine wichtige, unverzichtbare Stütze, als er sich in den Klauen der Nazis befand. Als Mutmacherin und geheime Kurierin.

Aber auch sein letzter Brief an Rosa aus der Haft, datiert vom 27. März 1937, lässt es an Herzlichkeit missen: »Eine vollwertige Ehegemeinschaft erfordert diese gegenseitige treue Verbindung; indem die Frau dem Manne Gefährtin, Streitgefährtin in seinem Lebenskampfe sein muss, wie es bei uns selbstverständlich und schon beinahe schicksalhaft geworden ist.« Und an anderer Stelle: »Was in dem Geist des Mannes schöpferisch und in der Brust der Frau als Gütiges und Herz empfunden dämmert, das muss sich mischen. Denn bewegende Kraftquelle männlichen Schaffens ist der Geist. Die bewegende Kraftquelle fraulichen Schaffens ist das Herz.« Nun ja. Eine eigenständige Rolle konnte Rosa Thälmann erst in der DDR wahrnehmen, gleichwohl sie da eigentlich auch im Schatten einer Ikone stand.

Viel Tragik scheint in dieser Biografie auf. Beispielsweise Thälmanns vergebliches Hoffen darauf, dass ihn Stalin aus dem Zuchthaus hole. Befreiungsversuche der Genossen scheiterten. Ebenso beeindruckte die maßgeblich von Willi Münzenberg im Exil initiierte Kampagne »Freiheit für Thälmann« die Nazis nicht, obwohl sie – nach der Niederlage, die sie durch Georgi Dimitroff im »Reichstagsbrandprozess« September 1933 erfuhren – von einem Tribunal gegen Thälmann Abstand nahmen. Übrigens, Rosa Thälmann meinte damals, so Friedmann, dass die Solidaritätskampagne ihrem Mann eher schaden als nützen würde. Dieser wiederum sah sein individuelles Schicksal als eine »bedeutende historische Fragestellung«, die »fast die gesamte schaffende Menschheit nicht unberührt« ließe.

Einem aufrichtigen Biografen darf, mit Nietzsche gesprochen, »Menschliches, Allzumenschliches« nicht fremd sein. Friedmann scheut sich nicht, Thälmanns Selbstverliebtheit anzusprechen. Und dass er sich einer gehobenen Sprache und eines gelehrigen Stils zu bedienen versuchte, was ihm indes nicht gelang. Spätestens seit dem Essener Parteitag 1927 habe er selbst an seiner Stilisierung zur Galionsfigur gewirkt und gewoben. Daraus wurde dann der »Sohn und Führer seiner Klasse« (Defa-Film 1954/55, Regie: Kurt Maetzig) und die »Stimme und Faust der Nation« (Thälmann-Lied, Text: Kuba)

In seiner »Antwort auf Briefe eines Kerkergenossen«, der zweiten autobiografischen Quelle, die Friedmann zitiert, ruft Thälmann Goethes »Faust« auf: »Ja! Diesem Sinne bin ich ganz ergeben, das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit und das Leben, der täglich sie erobern muß!« Der Biograf bekräftigt: Angebiedert hat sich Thälmann den Nazis nie! Am 18. August 1944 wurde er feige im KZ Buchenwald ermordet.

Bleibt die Frage: Wäre die Geschichte der KPD ohne Thälmann an der Spitze, der unter anderem unglücklicherweise die in Moskau geborene »Sozialfaschismus«-Doktrin nicht nur mittrug, sondern vehement und viel zu lange propagierte, anders verlaufen? Welche Alternativen gab es? Etliche. Die KPD hatte viele kluge Köpfe, mutige Männer und Frauen in ihren Reihen. Das Fazit von Friedmann: »Letzten Endes waren es Thälmanns Unzulänglichkeiten, die ihn aus Moskauer Sicht für höhere Weihen prädestinierten. Denn er war steuerbar und folgte willig und ohne Widerspruch den Wünschen und Erwartungen seiner sowjetischen Genossen. Unter Thälmanns Führung wurde die KPD mehr und mehr zu einem Instrument der sowjetischen Außenpolitik.«

Explizit nimmt Friedmann zugleich seinen Protagonisten in Schutz: Es wäre zu kurz gegriffen, »Thälmann die alleinige Schuld am Scheitern der KPD und ihrer Politik zuzuschreiben. Denn Thälmann und die KPD waren eingebunden in ein System politisch-ideologischer und materieller Abhängigkeiten, das sich vor allem in Gestalt der Kommunistischen Internationale, aber auch in einer kaum zu überschauenden Vielzahl personaler Netze zeigte, die von Stalin und anderen Moskauer Spitzenfunktionären über Jahre hinweg in aller Welt gesponnen und gepflegt wurden.«

Eine Biografie, die nicht nur in das Bücherregal eines jeden Kommunisten und jeder Kommunistin gehört.

Ronald Friedmann: »Wenn Moskau das so will …« Eine Ernst-Thälmann-Biografie. Trafo Wissenschaftsverlag, 522 S., br., 44,80 €.

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