Olga sammelt die letzten Frauen vor einem Kiosk am Zubringer zur Autobahn von Buenos Aires Richtung Norden ein. Es ist Freitagabend, Feierabendverkehr. Erst als alle 40 Teilnehmerinnen im Bus sitzen, kann sie durchatmen. Auf diesen Moment hat sie monatelang hingearbeitet. Die Organisation der jährlichen Reise zum »38. plurinationalen Treffen von Frauen, Lesben, trans Personen, Transvestiten, Bisexuellen, Intersexuellen und nicht-binären Personen« war in diesem Jahr wegen der andauernden Wirtschaftskrise unter Präsident Javier Milei besonders schwierig. »Aber wir geben nie auf«, sagt sie über die Gruppe aus Laferrere, einem der ärmsten Viertel der argentinischen Hauptstadt. Olga Arcadia Gomes, wie die 70-jährige Organisatorin der Reise mit vollem Namen heißt, wird an diesem Wochenende im November kaum schlafen. Doch der Kraftakt lohnt sich, wie sie aus 35 Jahren Erfahrung weiß: »Diese Reise stärkt mir die Seele«, sagt sie.
Für viele ist das Treffen der einzige Moment im Jahr, an dem sie dem Alltag entfliehen und andere Teile des Landes kennenlernen können. Denn seit 1986 findet das emanzipatorische Event mit zehntausenden Teilnehmer*innen jedes Jahr in einer anderen argentinischen Provinz statt. Dieses Mal führt die rund 17-stündige Fahrt ins nordöstliche Corrientes. Kaum im Bus versammelt, packen die Frauen nationale Spezialitäten wie Churros, Empanadas, Pan Dulce und Matetee aus und teilen ihre Alltagsprobleme: Eine Lehrerin berichtet von bewaffneten Schülern, eine Krankenschwester von gestohlenen Babys, eine Köchin von explodierenden Lebensmittelpreisen. Sie sprechen und lachen über Mutterschaft und Machomänner. Das plurinationale Treffen ist für sie ein Moment der Reflexion und Verschwesterung, ein Ausbruch aus individualisierten Problemen – ein Treffen der Unterdrückten, die sich gegen Patriarchat, Imperialismus und Ausbeutung organisieren.
Unter der aktuellen Regierung, deren Privatisierungen, Sozialkürzungen und Liberalisierungen das Leben der Schwächsten zusätzlich erschweren, sind ihre Anliegen besonders dringlich. Im Bus hat niemand Javier Milei[1] gewählt – und auch unter den rund 70 000 Teilnehmer*innen des Treffens in Corrientes herrscht Einigkeit: Der Präsident muss weg. Sprechchöre mit »Fuera Milei!« („Milei raus!“) erfüllen an diesem Wochenende die Straßen der Provinzhauptstadt. Er steht für die Abschaffung des Frauenministeriums, für den Ausverkauf indigener Böden, für einen Schulterschluss mit den USA und imperialen Interessen, für Polizeirepression sowie den Abbau des Sozialstaats und des öffentlichen Systems.
Hürden schon im Vorfeld
»Hier sind wir, Milei! Denn Unterdrückung schafft Rebellion, Organisation und Kampf«, ruft die Sprecherin des Organisationskomitees bei der Auftaktveranstaltung im Correntinischen Amphitheater. Die aktuelle Regierung sei die gewalttätigste seit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 – umso wichtiger sei die erfolgreiche Durchführung des diesjährigen Treffens. Schon in der Planung hatte die Milei-freundliche Provinzverwaltung den Organisatorinnen zahlreiche politische und bürokratische Hürden in den Weg gelegt.
»Feminismus ist für alle Geschlechter, denn es geht um Gerechtigkeit.«
Nina Brugo Encuentro-Mitbegründerin
Das Herz der Veranstaltung bilden 116 Workshops zu Themen wie geschlechtsspezifische Gesundheit, indigenen Landkämpfen, Recht, Identität, Sexualität und Widerstand. Umrahmt werden sie von Demonstrationen, Kulturprogramm sowie Auftakt- und Abschlusszeremonien. Olga nimmt dieses Jahr am Kurs zu Landkonflikten der Bäuerinnen und indigenen Gruppen teil. Sie selbst stammt von indigenen Einwohner*innen ab und kennt die Kämpfe der Urbevölkerung gegen multinationale Konzerne und Umweltzerstörung.
Ihre Heimatprovinz Chaco ist von Corrientes nur durch eine Brücke getrennt; Kämpfe um Landrechte, Vertreibung und die indigene Sprache Guaraní sind dort allgegenwärtig. »Ich will wissen, was mit meinen Leuten passiert«, sagt Olga. In drei Kursblöcken tauscht sie sich mit Aktivist*innen, Indigenen und Akademiker*innen über die jeweiligen Kämpfe aus. Frauen aus ganz Argentinien sitzen hier gemeinsam im Raum, von Chubut bis Jujuy sind sie tausende Kilometer angereist. Sie kommen aus unterschiedlichen Klimazonen, sprechen verschiedene Sprachen und haben unterschiedliche Lebensrealitäten – doch ihre Probleme ähneln sich: verschmutztes Wasser, Landraub, Leben am Existenzminimum. Hier vernetzen sie sich, tauschen Widerstandsstrategien aus und erarbeiten konkrete Forderungen an die Politik.
Das Format erinnert an die UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, in der feministische Forderungen mit Umwelt-, Antiimperialismus-, Verteilungs- und Ernährungsthemen verknüpft wurden. Das Treffen mit rund 50 000 Teilnehmer*innen mündete damals in die UN-Resolution 1325[2] »Frauen, Frieden, Sicherheit«, die bis heute in keinem Land vollständig umgesetzt wurde. Der »Encuentro«, wie das plurinationale Treffen in Argentinien genannt wird, trägt diese Tradition weiter. Mit jährlich 50 000 bis 200 000 Teilnehmerinnen hat sich das Ereignis über Jahrzehnte Gehör verschafft. Gesetze zur legalen Abtreibung sowie die Bewegung gegen Femizide »Ni una Menos« (nicht eine weniger) haben hier ihren Ursprung. Wie damals in Peking geht es um weit mehr als Frauenrechte – es geht um eine neue Weltordnung, wie Arbeitsrechtlerin und Encuentro-Mitbegründerin Nina Brugo (82) erklärt: »Feminismus ist für alle Geschlechter, denn es geht um Gerechtigkeit.«
Für Olga sind die inhaltlichen Debatten an diesem Wochenende nur eine von vielen Dingen, über die sie sich Gedanken macht. Sie sorgt sich auch um die 40 Frauen ihrer Reisegruppe aus Laferrere – was dieses Jahr besonders kompliziert ist, da die Stadtverwaltung alles dafür getan hat, den Frauen ihren Aufenthalt zu erschweren: Wie jedes Jahr schlafen sie in öffentlichen Schulen auf dem Boden. Doch im Vergleich zu anderen Jahren gibt es hier in Corrientes kein warmes Wasser, keine Möglichkeit zu kochen, keinen verlässlichen Sicherheitsdienst und die Distanzen zwischen Schulen und Veranstaltungen sind kilometerlang.
Doch wie im Alltag in Buenos Aires[3] finden die Frauen auch hier Lösungen: Sie erhitzen Wasser und waschen sich mit Kübeln, teilen das mitgebrachte Essen und lösen anfallende Probleme mit Gemeinschaftsgeld – einem Notfalltopf. Das ganze Jahr über haben Olga und ihre Gefährtinnen Kuchen verkauft, Brot gebacken, Bingo veranstaltet, Verlosungen organisiert und Spenden gesammelt, um Reisekosten und Verpflegung zu sichern. »Jede Frau hat einen Beitrag geleistet, um das möglich zu machen«, sagt Olga. Sie organisiert die Reise für das informelle Nachbarschafts-Gesundheitszentrum »Sala Dr. Néstor Oliveri«, das den Ärmsten ihres Viertels medizinische Grundversorgung bietet. Viele der Frauen im Bus besuchen Workshops zu Gesundheitsthemen: Menopause, Betreuung von Menschen mit Behinderung, Abtreibungen im prekären Kontext, Naturheilkunde und das marode System der psychischen Versorgung.
Hinter der Gruppe steht außerdem die CCC (Corriente Clasista y Combativa), eine politische und gewerkschaftliche Organisation, die sich für die Interessen der Arbeiterklasse einsetzt und der kommunistischen Partei PCR nahesteht. Die Rechte der arbeitenden Klasse stehen in Argentinien angesichts der geplanten Arbeitsmarktreform besonders im Fokus. Nach den Parlamentswahlen Ende Oktober kann Milei ab dem 10. Dezember mit zusätzlicher legislativer Macht regieren[4] – und eine seiner zentralen Reformen attackiert die mühsam erkämpften Rechte der Arbeiter*innenklasse. Die geplanten »Flexibilisierungen« erinnern an Debatten in Europa: längere Probezeit, kürzere Kündigungsfristen, Zwölf-Stunden-Tag, Kürzungen beim Mutterschutz, Einschränkung des Streikrechts, erleichterte Entlassungen – kurzum: Politik für Unternehmen und Großkonzerne.
Die Regierung stelle die Interessen von Konzernen und imperialistischen Mächten in den Vordergrund, die sich an Argentiniens natürlichen Ressourcen bereichern wollen, heißt es in der Eröffnungsrede. Das sogenannte »Anreizregime für Großinvestitionen«, das multinationalen Konzernen erlaubt, legal Steuern zu vermeiden und staatliche Souveränität auszuhebeln, sei erst der Anfang gewesen. Arbeitsmarktreform und die vom Internationalen Währungsfonds geforderten Liberalisierungen würden Argentinien als größten IWF-Schuldner weiter in die Arme der Finanzeliten treiben. »All dies wird unserem Volk nur noch mehr Hunger, Plünderung und Grausamkeit bringen. Wir wissen aus Erfahrung, dass Frauen, LGBTQ+-Personen, Kinder und Jugendliche als Erste darunter leiden«, erklärt die Rednerin.
Die Teilnehmer*innen in Corrientes wissen: Sie müssen ihre Rechte selbst verteidigen. Tausende stimmen deshalb dem Schlachtruf ein: »Poder popular!« (Macht dem einfachen Volk!). Die Frauen und Diversitäten haben mit dem plurinationalen Treffen über die Jahrzehnte eine Bewegung geschaffen, die weltweit einzigartig scheint. Sie vereint Alt und Jung, Arm und Reich, Bildungselite und Agrarsektor, Indigene und Hauptstädter*innen. Alle sind stolz auf das Ereignis. »Wir haben alle treu zusammengehalten und diese Reise möglich gemacht«, sagt Olga und applaudiert ihren Weggefährtinnen. Es ist Montagmittag und die Rückfahrt nach Buenos Aires steht an. Mit müden Beinen, fettigen Haaren und leeren Mägen haben sich die 40 Frauen wieder im Bus versammelt. Sie sind erschöpft, aber ihr Geist ist gefüllt mit schwesterlicher Solidarität und revolutionärer Kraft, um ein weiteres kompliziertes Jahr zu meistern.